Vor und hinter den Kulissen: Italien 1915

Anmerkung der Redaktion: Die Genius-Lesestücke geben zu heiklen Themen traditionell verschiedenen Auffassungen Raum. Diesmal betrifft es „Die Kriegserklärung Italiens vor 105 Jahren“ von Georg Dattenböck, erschienen im Genius-Brief vom 1. Oktober 2020. Der Historiker Univ. Prof. Dr. Lothar Höbelt leuchtet in einer Replik darauf hier die komplizierten Hintergründe aus. Leider ist die Politik immer und überall von einer Mischung aus Emotionen und geostrategischen Vernunftüberlegungen gekennzeichnet; Irrtümer nicht ausgeschlossen. So auch hier. Entscheidend bleiben Toleranz und persönlicher Respekt. Beiden fühlen wir uns verpflichtet. Nur so wird aus der Verwurzelung in nationaler Selbstbehauptung das gemeinsam Europäische erwachsen können.

Von Lothar Höbelt

Bei der Erklärung gegenwärtiger Ereignisse sind wir meist auf die Schaufassade der Geschehnisse angewiesen, auf das, was uns Medien und Propagandareferate servieren, möglichst griffig aufgemacht, mit Schwarz-Weiß-Malerei und „human interest story“, Märtyrern und Bösewichten. Alle Hintergründe und Entscheidungsfindungsprozesse bleiben vorerst notwendigerweise der Spekulation überlassen, ja den berühmt-berüchtigten „Verschwörungstheorien“. Erst wenn nach Jahrzehnten die Archive geöffnet werden, lassen sich präzisere Erkenntnisse darüber gewinnen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Bis dahin haben sich gewisse Bilder freilich bereits im Gedächtnis festgesetzt – und bleiben dort haften, weil das Studium der Fachliteratur ja verständlicherweise nicht zu den Prioritäten des Publikums zählt.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das Auseinanderklaffen von überkommenen Klischees und späteren Forschungsergebnissen ist der italienische Kriegseintritt 1915. [1] Die Österreicher hatten seit jeher Angst, eine Welle „irredentistischer“ nationaler Begeisterung werde irgendwann einmal den italienischen König zum Krieg zwingen, zur Befreiung von „Trento e Trieste“. Doch die Realität 1914/15 war eine ganz andere. Der Kriegseintritt wurde im kleinen Kreis auf höchster Ebene beschlossen; die Mehrheit des Parlaments und wohl auch der Wähler blieb bis zuletzt skeptisch.

Die Befürworter des Kriegseintritts waren auch keineswegs prinzipiell anti-deutsch oder anti-österreichisch. Im Gegenteil: Außenminister Sidney Sonnino war bekannt als Verfechter des Dreibundes mit den Mittelmächten. Aber an der Seite der Mittelmächte konnte Italien nicht in den Krieg eintreten, weil und solange die britische Marine das Mittelmeer beherrschte. Als Neutraler werde Italien aber künftig von beiden Seiten missachtet werden. [2] Um den Großmachtstatus abzusichern und auszubauen, blieb infolgedessen nur der Kriegseintritt auf Seiten der Entente.

Als Kriegsziele hatten alle italienischen Strategen in erster Linie die Ostküste der Adria im Visier: Von Albanien bis Triest. Denn die italienische Küste verfügte kaum über geeignete Häfen, Istrien und Dalmatien hingegen schon. Gerade damit stieß Italien aber auf den Widerstand der Serben und Russen. Im sogenannten Londoner Vertrag (April 1915) wurde Italien von der Entente deshalb nur ein Teil Dalmatiens versprochen – und auch dieses Versprechen wurde 1919/20 nicht eingehalten. (Daher der Slogan vom verstümmelten Sieg: „vittoria mutilata“.) Südtirol bis zum Brenner fungierte aus dieser Sicht als Trostpreis, weil sich dagegen innerhalb der Entente kein Widerspruch erhob.

Die Österreicher haben Italien Welschtirol und einige Gebiete am Isonzo angeboten, wenn es neutral bliebe. Nicht ganz freiwillig, aber sie taten es, weil Deutschland sie dazu unter Einsatz aller Mittel überreden wollte. Denn davon hing nach deutscher Berechnung der Ausgang des Krieges ab. Der Berliner Vorschlag lautete: Man solle das Trentino abtreten – und es nach Ende des Krieges einfach mit Zins und Zinseszinsen zurückerobern. Da erhob Franz Joseph seine berühmte Einwendung: Die Monarchie solle lieber anständig zugrunde gehen. Denn so klug waren die Italiener auch, dass sie diese Hintergedanken durchschauten. Österreich-Ungarn würde sich für die Erpressung rächen, sobald es dazu in der Lage war. Daher musste Italien dafür sorgen, dass es dazu nicht in der Lage war. Diese Logik war beiden Seiten bewusst.

Vor dem Kriegseintritt am 23. Mai 1915 entwickelte sich in Italien noch eine innenpolitische Krise: Der König hatte den Londoner Vertrag unterschrieben – aber würde das Parlament zustimmen? Die Mehrheit des Parlaments hörte nach wie vor auf den Alt-Ministerpräsidenten Giolitti, der keinen Krieg wollte. In dieser Situation wurden all die Demonstrationen veranstaltet, die als „radioso Maggio“ (strahlender Mai) in die Geschichte eingegangen sind – und Aktionisten wie d’Annunzio und Mussolini eine perfekte Bühne boten. [3] Doch entscheidend waren nicht diese Kundgebungen einer exaltierten Minderheit. Entscheidend war, dass König Viktor Emanuel erklärte, wenn das Parlament den Vertrag verwerfe, werde er abdanken und eine Staatskrise auslösen. Dieses Risiko wollte der Piemontese Giolitti als getreuer Anhänger der Dynastie Savoyen nicht auf sich nehmen.

Freilich: Wie so oft im 1. Weltkrieg hatten sich die Experten geirrt. Der italienische Kriegseintritt brachte keine Entscheidung im Weltkrieg. Die Vorstellung vom „kurzen Krieg“ erwies sich ein weiteres Mal als Illusion. Die österreichische Front hielt: Da ist das Engagement der Standschützen mit Recht hervorgehoben worden. Aber auch zwei weitere Faktoren spielten eine große Rolle: Die Serben koordinierten ihre Aktionen nicht mit den Italienern, die sie als Rivalen betrachteten. Die Österreicher konnten daher ihre Truppen von der Balkanfront abziehen und gegen Italien verwenden. Sie waren am Isonzo immer noch weit unterlegen – an Offizieren und Mannschaften, aber nicht an Maschinengewehren, denn die Italiener hatten ihre in England bestellt – und England hatte mit Kriegsbeginn aufgehört zu liefern. Bis die Produktion bei Fiat anlief, war der Krieg schon im Gange …

Der italienische Generalstabschef Cadorna hatte in der Julikrise 1914 den König noch im Sinne der Absprachen mit Deutschland um den Befehl ersucht, wie versprochen drei Korps ins Elsass zu schicken, gegen die Franzosen. Der König verwies auf die englische Flotte. Cadorna schrieb deshalb noch 1918, man hätte den Kampf an der Seite Deutschlands dennoch riskieren sollen. Vielleicht hätten die Briten dafür Neapel oder Genua bombardiert, aber in drei Monaten hätte man den Krieg gewonnen. Ja, was wäre wenn – das kann niemand sagen. Auf Cadorna setzten die Österreicher übrigens gewisse Hoffnungen, weil er als Gegner der Freimaurer galt, die allerdings wiederum in zwei Observanzen gespalten waren: Eine schloss sich den Kriegsbegeisterten an, die zweite nicht – zur letzteren Richtung gehörte z. B. Cadornas Vorgänger Alberto Pollio, der kurz vor Kriegsausbruch verstorben war.

Wie sagte ein Historikerkollege, Fred Sinowatz, so richtig: Es ist alles sehr kompliziert. Aber gerade das macht Geschichte ja spannend …

Literatur

William A. Renzi, In the Shadow of the Sword. Italy’s Neutrality and Entrance into the Great War, 1914–15 (New York 1987).

Gian Enrico Rusconi, L’azzardo del 1915: Come Italia decide la sua guerra (Bologna 2005).

Lothar Höbelt, „Stehen oder Fallen?”. Österreichische Politik im Ersten Weltkrieg (Wien 2015), S. 27–34.

Franco Cabrio, Uomini e mitragliatrici nella grande guerra, 2 Bde. (Novale 2008/09).

Anmerkungen

[1] Auffällig ist übrigens, dass alle möglichen Feindschaften von ehedem von politisch korrekten Zeitgenossen gerne, um es mit einem Modewort zu sagen: „verharmlost“ werden, nur bei Italien hält sich dieses nachbarschaftliche Engagement in Grenzen – vielleicht rein zufällig, seit dort Berlusconi und Salvini die Wahlen gewinnen? Vorurteile sind eben böse, es sei denn, es geht gegen Rechte.

[2] Diese Erwartungshaltung wurde während des Krieges vielfach bestätigt, vom Durchmarsch durch Belgien und Persien bis zu Holland, dessen Handelsmarine 1918 von der Entente einfach konfisziert wurde – von Blockade und U-Boot-Krieg ganz zu schweigen.

[3] Mussolini betrachtete d’Annunzio als exhibitionistischen Rivalen, den er als „Duce“ in Villareale am Gardasee in einen goldenen Käfig sperrte …

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