Spaltung

Von Lothar Höbelt

Seit einigen Jahren geistert ein Begriff durch die Kolumnen besorgter Bürger, der es verdient, ein wenig genauer unter die Lupe genommen zu werden, nämlich „Spaltung“.

Man könnte „Spaltung“ auf den ersten Blick vielleicht bloß als die deutsche Version des politologischen Anglizismus „cleavages“ auffassen, nicht im Sinne offenherziger Dekolletees, sondern im Sinne der fundamentalen Bruchlinien, die jede Gesellschaft in politische Lager teilen, wie z. B. Religion, Nation, Klasse. Österreichs drei Lager, ursprünglich getrennt durch Kultur- und Klassenkampf, wären nahezu ein Idealbeispiel für diese These. Derlei „cleavages“ sind keineswegs mit negativen Vorzeichen versehen, im Gegenteil: Jede pluralistische Gesellschaft, jede auf Wettbewerb beruhende Demokratie, wird notwendigerweise von Parteien getragen, von Parteien, die – wie schon der Name sagt – nur einen Teil (pars) des Volkes erfassen. Wenn Parteien – egal unter welchem Etikett – das politische Leben tragen, so erscheint es nur würdig und recht, wenn sie sich nicht bloß aus Fan-Clubs charismatischer Oligarchen zusammensetzen, sondern klar erkennbare Milieus und Gesellschaftsentwürfe verkörpern. Die politischen Lager waren in Österreich lange Zeit noch viel stabiler als heute, die Parteien viel dichter organisiert, dennoch waren damals zwar Klagen über Parteibuchwirtschaft als organisierte Form des Vitamin P zu hören, aber kaum ein solches Lamento über die „Spaltung“ der Gesellschaft.

Warum ein so bedrohliches Phänomen?

Warum gilt „Spaltung“ dann neuerdings als ein so bedrohliches Phänomen? Zum einen war vielleicht ansatzweise immer schon eine gewisse Wehleidigkeit bei jenen zu konstatieren, die Gefahr laufen, bei der Aufteilung des Kuchens in die Minderheit zu geraten. Selbstbewusste Mehrheiten kümmert „Spaltung“ in der Regel wenig; Verlierer dagegen sehr. Die jüngste Geschichte hat dafür prägnante Beispiele parat: Die „Ausgrenzung“ der Freiheitlichen gab selten zu derlei Klagen Anlass; doch als die FPÖ an die Regierung kam, wurden plötzlich allerorten Rufe laut, doch bitte die Gefühle derer zu schonen, die wider Erwarten über Nacht in der Opposition gelandet waren. Ähnlich verhielt es sich beim Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2016: Die veröffentlichte Meinung war voll von Warnungen vor der verhängnisvollen Spaltung der Gesellschaft, solange Hofer auf der Gewinnerstraße schien. Als er das Ziel dann knapp verfehlte, war plötzlich keine Rede mehr davon.

Ein ganz ähnliches Muster – wenn auch in gewisser Weise mit umgekehrten politischen Vorzeichen – scheint sich in jüngster Zeit beim leidigen Thema Impfpflicht abzuzeichnen: Ist es nicht kurios, dass oft gerade Anhänger der Strömung, die sich beim Thema Zuwanderung mit Recht über die Aushebelung von Mehrheitsbeschlüssen durch demonstrierende Minderheiten und eine ihre Kompetenzen überschreitende Justiz beschwert hatten, plötzlich in einer – für die Zukunft des Gemeinwesens mit Verlaub viel weniger wichtigen – Frage ganz im Sinne der „Donnerstags-Marschierer“ der Jahrtausendwende für „Widerstand“ zu schwärmen beginnen und sich dabei auf nebulöse Interpretationen der Grundrechte berufen.

Zu dem situationsbedingten Niederschlag von Mehrheits- und Minderheitspositionen kommt noch ein weiterer Faktor. Bei der Spaltung, über die geklagt wird (und als Konservativer habe ich dafür sogar einen Rest von Verständnis!), handelt es sich um Neuheiten, um ungewohnte Konflikte und Spannungen, die nicht durch Tradition geadelt sind. Dass „Arbeit“ und „Kapital“ widerstreitende Interessen haben, galt als Axiom (selbst als beide via Sozialpartnerschaft schon vielfach am selben Strang zogen). Auch dass „grün“ und „blau“ einander nicht grün sind, kann wohl kaum eine große Überraschung darstellen. Aber dass sich Bruchlinien plötzlich quer durch die Allerweltsparteien der Mitte zogen, wie bei VdB contra Hofer, als die Stichwahl die ÖVP-Wähler ziemlich exakt im Ausmaß von fifty-fifty in unterschiedliche Lager teilte, ließ Spaltung plötzlich als ein Schreckbild erscheinen, das herkömmliche Gewissheiten in Frage stellte. Noch viel unerwarteter kam dieser Effekt bei den CORONA-Maßnahmen, die selbst unpolitische Kaninzüchtervereine und Bridge-Runden allein schon an der Organisation geselliger Zusammenkünfte verzweifeln lässt, weil die „health freaks“ auf beiden Seiten der Barrikade einander in Acht und Bann tun.

Medien als Verstärker

Verstärkt wird dieser Eindruck eines grauenvollen Risses quer durch die Gesellschaft durch die Medien, gerade die parteiunabhängigen, die bei den klassischen Lagerkonflikten vielfach tatsächlich um einen Anschein von Unabhängigkeit und Objektivität bemüht waren, jetzt aber – seit ihnen die Funktion als Übermittler von Informationen weitgehend abhanden gekommen ist – im Sinne des Meinungsjournalismus bei all den neuen Kulturkämpfen viel heftigere Kampagnen in Szene setzen als die Parteisekretariate mit ihrer 08/15-Haxelbeißerei, die ohnehin kaum jemand mehr zur Kenntnis nimmt. Auf der anderen Seite erlauben uns die sogenannten „sozialen Medien“ einen Einblick in Expektorationen hochprozentiger Stammtischrunden und übellaunige Morgenkommentare, in einem wahrlich atemberaubenden Ausmaß, der früheren Generationen versagt geblieben ist. Hysterie ist da an allen Fronten Trumpf. Die Bürgerkriegsgegner der dreißiger Jahre hatten gegnerische Überzeugungen bis aufs Blut bekämpft, aber prinzipiell respektiert. Die vermeintlich so aufgeklärte Gesellschaft der Gegenwart ruft in ihrem Kampf gegen unliebsame -Ismen aller Art ständig nach dem Exorzisten.

Bei Kulturkämpfen kommt noch das Element der vorweggenommenen Frustration hinzu: Denn „man“, sprich: der Staat bzw. die regierende Partei, kann bis zu einem gewissen Grad sehr wohl Enteignungen und Privatisierungen vornehmen, die Steuern hinauf- oder heruntersetzen, aber der Versuch, den Leuten vorzuschreiben, was sie zu denken haben, ist selten von Erfolg gekrönt. (Der Kulturkampf alten Stils bietet dafür das beste Beispiel: Gerade der antiklerikale Furor machte den politischen Katholizismus mehrheitsfähig!) Das Resultat ist bestenfalls die oft anzutreffende Schizophrenie von wohlfeilen Bekenntnissen in der Öffentlichkeit, gepaart mit gegenteiligen Kommentaren hinter vorgehaltener Hand. Das Denken wollten übrigens gerade die Alt-Parteien in ihrer Glanzzeit nicht wirklich kontrollieren. Sie verlangten ihren Tribut, hießen jedoch mit Wonne Alt-Kommunisten und „Ehemalige“ Nazis als Vorposten und Beitragszahler in ihren Reihen willkommen. (Wie wurde das Kürzel BSA unter anderem aufgelöst: „Bund Sämtlich Andersdenkender“).

Die Einpeitscher des zeitgeistig-überparteilichen Einheitsbreies mit seinem Nonstop-Konsens (und Nonsens?) möchten hingegen gerade auf diesem Sektor punkten. Marx war sich noch sicher, das Sein bestimme das Bewusstsein – seine verkommenen Jünger schwören auf das genaue Gegenteil, auf die „kulturelle Wende“ („cultural turn“). Man will Probleme gar nicht mehr lösen, nur mehr in politisch korrekte semantische Formeln kleiden. Die (ukrainisch-stämmige) britisch-australische Autorin Helen Dale hat diese Phobie unlängst treffend umschrieben: „When you think language makes the world, you are frightened of words.“[1] Da ist dann natürlich Schluss mit „Die Gedanken sind frei!“ Der Reflex dieser Phobie aber schafft Frustration auf beiden Seiten, bei den hilflosen Zensoren, die ja sehr wohl spüren, dass ihnen niemand glaubt, wie bei ihren Opfern, die es hassen, immer öfter den Eindruck zu haben, sich der Schweigespirale beugen zu müssen.

Fazit: Spaltung im Sinne von Debatte und Wettbewerb, durchaus auch im Sinne von divergierenden Überzeugungen, ist selbstverständlich zu begrüßen. Bloß medial verstärkte Hysterie macht die Sache mühsam, wie in allen anderen Fällen auch. Patentrezepte dagegen gibt es wie bei allen wirklichen Problemen natürlich keine. Allenfalls die österreichische Patentlösung im Umgang mit den 150%-igen aller Seiten: Net amal ignorieren …

Anmerkung

[1] Helen Dale (Demidenko), Policing Words. In: Law & Liberty, 24. Jänner 2022.

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Bildquelle:

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