„Zensur ist ein Angriff auf die Demokratie“

Von Alfred de Zayas*

Schande für EU-Europa: Bis zu € 50.000 Strafe drohen künftig in Österreich, wer RT-Inhalte zugänglich macht: „… Ein frontaler Angriff auf jedermanns Recht nach Information gemäss Artikel 19 des UN Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte.“

„Fake News“ und „Post-Truth“ sind beliebte Wortschöpfungen – aber sie sind eigentlich schon sehr lange Teil der politischen Landschaft. Wir haben gelernt, mit verfälschten Nachrichten, gefälschter Geschichte und falschen Gesetzen zu leben. Wir schwimmen in einem Ozean aus Lügen und Desinformationen, schaffen es aber irgendwie, den wirtschaftlichen und politischen Haien um uns herum zu entkommen.

Viel besorgniserregender erscheint das Phänomen, dass es „reale Tatsachen“ gibt, die unsere Aufmerksamkeit verdienten, die dringendes Handeln erforderten, doch die unsere Politiker und Medien als nicht existent oder marginal erachten. Darunter fallen so wichtige Themen, wie z. B. exorbitante Militärausgaben, verzerrte Staatshaushalte, xenophobe Kriegshetze, strukturelle Gewalt, militärische Aggressionen, einseitige Zwangsmaßnahmen, Finanzblockaden, die Zulassung von Medien, offensichtlich ungerechte Gesetze, die Korruption des „Rechtsstaates“ durch Rechtsschwindel und „Rechtskrieg“, das Eindringen von Geheimdiensten in öffentliche Institutionen, das „Verdrehen“ von Menschenrechten, die Inhaftierung von Informanten wie Julian Assange, ungerechte Besteuerung, Steueroasen, Steuerhinterziehung, Unternehmensbestechung, wirtschaftliche Ausbeutung, Ökozid, extreme Armut, menschengemachte Hungersnöte, soziale Ausgrenzung und vieles mehr.

Halten wir inne und fragen uns, warum diese Tatsachen von Politikern und Medien gleichermaßen ignoriert oder bagatellisiert werden. Warum werden diese „unbequemen“ Fakten beiseitegeschoben, als wären sie nur nebensächlich oder als gäbe es sie gar nicht? Ohne Zweifel erzeugen diese Tatsachen kurz-, mittel- und langfristige Folgen, erzeugen oder verewigen Ungleichgewichte und verbreiten ein vages, destabilisierendes Gefühl von Inkohärenz und kognitiven Widersprüchen.

„Fakten ohne Folgen“ bildet eine Kategorie eigener Bedeutung: Solche Fakten können im Internet vorhanden, verfügbar oder allgemein bekannt sein – aber nur unter der stillschweigenden Bedingung, dass keine echte Debatte darüber geführt und keine konkreten Maßnahmen ergriffen würden. Es ist schlimmer als eine Verschwörung des Schweigens – es ist eine der Verantwortungslosigkeit.

Bücher ohne Folgen

Es gibt auch „Bücher ohne Folgen“, Bücher ohne dringende und zwingende Konsequenzen. Während einigen Schund-Büchern wie dem von Francis Fukuyamas Vom Ende der Geschichte und letzten Mannes enorme Aufmerksamkeit zuteilwurde, werden äußerst relevante und herausfordernde Bücher, wie von Noam Chomsky, John Mearsheimer, Stephen Kinzer, William Blum, Jeffrey Sachs, Nils Melzer oder Präsident Jimmy Carter zwar von renommierten Verlagshäusern veröffentlicht, aber ohne rechten Effekt. Das hätte man nach den Veröffentlichungen von Chomskys „Die Konsensfabrik“, Kinzers „Umsturz“, Sachs „Das Ende der Armut“ , Melzers „Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung“, Carters „Unsere gefährdeten Werte“ oder Mearsheimers „Die Tragödie der Großmachtpolitik“ erwarten dürfen: Nicht nur höfliche akademische Debatten gefolgt von wissenschaftlichen Konferenzen, sondern echte demokratische Diskussionen in Stadthallen, der Tagespresse, im Internet und gesamten Medienspektrum. Politisch wurde diesen und anderen notwendigen Büchern mit Schweigen begegnet. Sie hatten das Potenzial, das Völkerrecht und die Menschenrechte voranzubringen, und genau deshalb wurden sie Opfer „freundlicher Vernachlässigung“.

Schwere Verbrechen durch unsere Regierungen

Die Fakten liegen vor und können in offiziellen Dokumenten und im Internet eingesehen werden. Wir wissen, dass schwere Verbrechen begangen wurden und von unseren Regierungen begangen werden. Wir sollten in der Lage sein dies hinauszurufen, „nicht in unserem Namen“, aber die Massenmedien weigern sich, die Probleme anzusprechen und Dissidenten werden oft nur ignoriert oder lächerlich gemacht. Wir wissen, dass die Regierung der Vereinigten Staaten eine Regierung nach der anderen in ganz Lateinamerika und der Welt gestürzt hat, dass die CIA Länder in Europa und im Nahen Osten destabilisiert und Staatsstreiche finanziert hat. Wir wissen, was Assange und Snowden enthüllten, aber es gibt eine stillschweigende Übereinkunft in den Medien, sich nicht auf diese Fakten einzulassen, sondern uns mit der Dämonisierung unserer geopolitischen Rivalen oder mit anderen „bequemen Fakten“ abzulenken.

Wenn wichtige Fakten und Veröffentlichungen bewusst dem politischen Narrativ ferngehalten werden, wird der Kern der Demokratie untergraben. Wir beobachten dies in der völlig verdrehten Darstellung des aktuellen Krieges in der Ukraine. Eine solche Manipulation der öffentlichen Meinung ist enorm gefährlich, denn die Desinformation und Unterdrückung einer echten Debatte kann uns direkt in den Dritten Weltkrieg und eine nukleare Apokalypse führen. Präsident Carter scherzte nicht, als er sagte, die USA wären „die kriegerischste Nation in der Weltgeschichte“.[1]

Dieser anormale Zustand erzeugt ganz natürlich „Verschwörungstheorien“, weil, wie Spinoza in seiner Ethik schon schrieb, „die Natur ein Vakuum verachtet“. Wenn Menschen die Wahrheit vorenthalten wird, wenn sie keinen Zugang zu Informationen erhalten, fangen sie ganz natürlich an Hypothesen zu formulieren. Kein Wunder, wenn Eliten Fakten ignorieren und unterdrücken, wird dieses Vakuum oft von unausgereiften Populisten und Spinnern gefüllt.

Das Phänomen der selektiven Empörung und Rechtsanwendung à la carte unterwandert vorhersehbar das Herrschaftssystem und lässt Gesellschaften den Glauben an den Rechtsstaat oder zumindest das „Establishment“ verlieren. Der Versuch „Fake News“ mit Zensur und einer Gesetzgebung gegen „Hassrede“ zu begegnen, ist vergeblich. Er wird nur dazu führen, die Diskussionen in den Untergrund zu schieben und eine Atmosphäre des Terrors und der Angst zu verbreiten. Es wird unsere Gesellschaften mehr und mehr in den Totalitarismus treiben, was Orwell vorhersah, doch versuchte abzuwenden.

Ein Frontalangriff auf das Recht auf Information

Dagegen wird ein einfacherer Zugang zu allen sachdienlichen Informationen und pluralistischen Ansichten benötigt mit einer offeneren Debatte – nicht weniger davon! Das Internet muss frei von politischer Kontrolle bleiben – weder durch den Staat noch durch den privaten Sektor. Die offizielle Zensur von RT und Sputnik, die Zensur des Privatsektors durch Twitter, Facebook, Youtube stellen einen Frontalangriff auf das Recht aller auf Information dar, das Recht aller auf Zugang zu Informationen, wie es in Artikel 19 des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte festgelegt ist. Jedermann sollte sich ein eigenes Urteil bilden können. Nur so können Gesellschaften demokratische Rechte und Pflichten sinnvoll wahrnehmen. Zensur ist ein Angriff auf die Demokratie.

Es darf keine „Filter“ geben, um die Wahrheit des digitalen Austauschs zu testen. Die einzig legitimen Kontrollen sind diejenigen zur Unterdrückung von Pornografie, Kriegshetze, Aufstachelung zu Gewalt, Erpressung und anderen Betrügereien. In demokratischen Gesellschaften dürfen keine Filter zur Anwendung kommen, die Tatsacheninformationen unterdrücken, welche die Mainstream-Medien bewusst übergehen oder alternativ interpretieren.

Eine Kultur des zivilisierten Dissenses

Was wir brauchen, ist eine „Kultur des zivilisierten Dissenses“ – in der jeder seine Meinung äußern kann, ohne mit dem Karrieretod und sozialer Ächtung rechnen zu müssen. Wir müssen das Recht, falsch liegen zu können, bekräftigen – denn nur wenn wir uns die Möglichkeit des Irrens bewahren, bleiben wir unabhängig. Künstlerischer, wissenschaftlicher, soziologischer Fortschritt hängt von der Freiheit ab Hypothesen, unterschiedliche Modelle und unterschiedliche Perspektiven zu postulieren – die manchmal richtig sein können und manchmal nicht. Aber eine gescheiterte Hypothese darf nicht kriminalisiert werden. Die Alternative lautet: Stagnation von Zulassungen, Robotisieren und eine Orwellsche Dystophie. Der Konformismus des aktuellen Zeitgeistes ist demokratischen Gesellschaften unwürdig. Es liegt an uns, das Recht auf Information und das Recht auf Widerspruch zu verteidigen. Das ist die Freiheit, die wir dringend benötigen. Das ist die Art von Demokratie, die wir von unseren Staatsführungen einzufordern haben.

Anmerkung

[1] www.express.co.uk/news/world/1115145/former-us-president-jimmy-carter-china-donald-trump

* Alfred de Zayas ist Rechtsprofessor an der Schule für Diplomatie in Genf. Er diente von 2012 bis 2018 als unabhängiger Experte der UN für internationale Ordnung. Er ist Autor von zahlreichen Büchern, darunter jüngst „Building a Just World Order“, erschienen bei Clarity Press, 2021.

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Bildquelle:

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