Von Peter Wassertheurer
Sie besaßen die Kraft, eine österreichische Bundesregierung in die Luft zu sprengen. Sie beschäftigten die Europäische Union (EU), waren der Stoff für wissenschaftliche Studien, säten Argwohn zwischen Nachbarstaaten und sorgten für Aufregung, wann immer sie zur Sprache kamen. Und bis heute weiß man nicht so recht, ob sie immer noch wirksam sind, oder ob sie tatsächlich obsolet sind. Die Rede ist von den Beneš-Dekreten, jenen nicht einmal zehn von insgesamt über 140 Dekreten, die für die Enteignung, Entrechtung und Vertreibung von über drei Millionen Sudetendeutschen verantwortlich waren. Man kann es noch drastischer formulieren, denn Völkerrechtsexperte Felix Ermacora kam in einer Auftragsstudie 1993 zum Ergebnis, dass diese Vertreibung alle Kriterien eines Völkermords erfülle. Demnach verdienen sie es, als Völkermord-Dekrete bezeichnet zu werden. Da sie sich vornehmlich auf die sudetendeutsche Volksgruppe bezogen hatten, kann ihnen auch noch das Attribut rassistisch umgehängt werden. Für die Tschechen widerspricht das der historischen Wahrheit. Ihre Lesart hört sich ganz anders an.
Widerspruch zum EU-Wertekorsett
Die Dekrete seien Teil der europäischen Nachkriegsordnung und zielten nicht nur auf die Sudetendeutschen, sondern auf alle Verräter und Kollaborateure, unabhängig ihrer Nationalität, weshalb sie mit Rassismus nichts zu tun hätten. Außerdem handele es sich bei der Vertreibung um einen Bevölkerungstransfer, den die Alliierten im Potsdamer Abkommen 1945 angeordnet hätten. Davor hätte es zwar brutale Ausschreitungen gegen die Sudetendeutschen gegeben, diese wären aber dem spontanen Volkszorn entsprungen und nicht einer Anordnung der Regierung in Prag. Außerdem sei die tschechische Revanche eine Folge der NS-Barbarei im Protektorat. Blickt man bis in das Jahr 1990 zurück, fällt auf, dass die Beneš-Dekrete bis zur Samtenen Revolution nie an der Spitze der sudetendeutschen Anliegen standen. Ganz oben fand man Restitutionsforderungen und das Recht auf Heimat. Ihren Aufstieg verdankten die Beneš-Dekrete den tschechischen EU-Beitrittsambitionen und dem Prüfverfahren der EU-Kommission. Diese hatte für die Mitgliedskandidaten aus dem ehemaligen Ostblock in Maastricht Aufnahmekriterien festgelegt, zu denen neben Wirtschaftsfragen und einem Demokratiepaket auch die Übernahme des EU-Wertekorsetts gehören. Und gerade Letzteres schien, wie sudetendeutsche Kritiker meinten, mit den Beneš-Dekreten nicht im Einklang zu stehen. Die Forderung war klar: Prag müssen noch vor einem EU-Beitritt diese Dekrete aufheben. Prag jedoch dementierte die Rechtsgültigkeit der Dekrete und erklärte sie für obsolet. In Wahrheit fürchtete man mit deren Aufhebung eine sudetendeutsche Wiedergutmachungsforderungsflut. Anderseits trug Prag selber zur Verwirrung bei, denn sudetendeutsche Forderungen wurden mit dem Hinweis abgewiesen, dass eine Rückgabe wegen der Dekrete nicht möglich sei. Waren sie also entgegen aller Beteuerungen aus Prag doch noch gültig?
Unterstützung fanden die Sudetendeutschen bei der FPÖ. Die drohte mit einem Veto: Entweder Aufhebung oder kein EU-Beitritt! Mit der freiheitlichen Regierungsbeteiligung im Jahr 2000 mutierte die Forderung zu einer ernstzunehmenden Drohung. Brüssel und Prag setzten Wien unter Druck. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel erklärte die Beneš-Dekrete zur Chefsache: Kein Veto! Die EU einigte sich mit Prag auf eine Kompromissformel, die zwar sudetendeutsche Interessen negierte, für Prag aber den erhofften Schlussstrich unter einer lästigen Debatte bedeutete. Brüssel fühle sich, so die Einigung, für vermögensrechtliche Angelegenheiten, die vor ihrer Gründung geschaffen wurden, nicht zuständig und gab sich mit der tschechischen Erklärung zufrieden, dass die Beneš-Dekrete als totes Recht keine Anwendung mehr finden. Kein EU-Bürger könne heute mehr durch sie enteignet werden. Für die Freiheitlichen war diese Regelung nicht genug und sie blieben bei ihrer Forderung: Die Dekrete müssen weg, andernfalls bleibt Tschechien draußen. Schüssel drohte mit dem Bruch der Koalition.
Unverblümte Doppelzüngigkeit
„Dann geht nichts mehr“, hatte er schon 2001 gewarnt. Völlig unverblümt trat die Doppelzüngigkeit der ÖVP zutage. Für Schüssel und seine Außenministerin Ferrero-Waldner waren die Dekrete nicht EU-konform. Das von der FPÖ geforderte Veto kam aber nicht in Frage. Kaltschnäuzig riss die ÖVP dieses Thema an sich und begann, die FPÖ in der Beneš-Debatte zu spalten. Als Schüssel dann 2001 beim Sudetendeutschen Heimattag den Karlspreis der Landsmannschaft entgegennahm, bediente er sich vor Tausenden von Sudetendeutschen bewusst der Sprache der FPÖ, obwohl er eine andere Linie verfolgte. Dieser Taschenspielertrick machte sich nach dem Koalitionsbruch und bei der Wahl 2002 mit einer satten Mehrheit abermals bezahlt. Die FPÖ war nach dem Knittelfeld-Desaster abgestraft worden. Ihr Veto zerbröselte und 2004 stimmte sie dem EU-Beitritt Tschechiens zu. Lediglich Barbara Rosenkranz (FPÖ) verweigerte ihre Zustimmung. Ihr Nein war symbolisch und sollte zeigen, dass die Beneš-Dekrete eine unerledigte Schande darstellen. Schüssel hatte sich bei den Beneš-Dekreten durchgesetzt. Dabei wäre das Veto das einzige Mittel gewesen, um Prag zum Handeln zu zwingen. So aber erfüllen die Dekrete bis heute ihre wichtigste Funktion im Kampf gegen sudetendeutsche Restitutionsforderungen, denn dann sind sie auf einmal doch nicht obsolet. Der Fehler der FPÖ war es, sich dieses Thema aus der Hand nehmen zu lassen.
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