Türkische Politik der letzten Jahre zwischen Realismus und Illusion – Teil 2

Von Peter Toplack

Für den zweiten Teil meines Artikels bezüglich des türkisch-europäischen Verhältnisses hätte es keinen besseren Anstoß geben können als den Besuch der zwei höchsten Europapolitiker bei Präsident Erdogan in Ankara.

Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin und Charles Michel als Präsident des Europarats reisten gleich nach Ostern auf getrenntem Wege (V. d. Leyen auf direktem Wege aus Brüssel, Michel von einem Besuch in Libyen) nach Ankara, um mit dem türkischen Präsidenten Erdogan neben problematischen Meinungsverschiedenheiten eine Verlängerung des Abkommens zur Regulierung des Flüchtlingsstromes aus der Türkei nach Griechenland zu verhandeln. Hier geht es eigentlich um die Höhe der Zahlungen der Europäer an die Türkei und um die Hoffnung der beiden, dass der Präsident der Türkei ihnen gnädig gesinnt sein möge.

Nachdem die Türkei am 19. März 2021 aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist, war natürlich dieser Austritt ein Pflichtpunkt jener „Ermahnungen“, die die beiden in Ankara unterbringen mussten, man hat ja schließlich „seine Werte“.

Das „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ wurde am 11. Mai 2011 von 13 Staaten, unter anderem auch von Österreich und der Türkei, in Istanbul unterzeichnet. Inzwischen ist dieses Abkommen nach dem türkischen Abschied in heute 34 Ländern in Kraft. Der Austritt der Türkei hat einen heftigen politischen und medialen Sturm gegen Erdogan und seine AKP ausgelöst, ungeachtet dessen, dass Polen schon 2019 seinen Austritt angekündigt, aber nie vollzogen hat. Allerdings hat Polen auch die Ankündigung nie zurückgezogen.

Es war also sicher, dass beide, V. d. Leyen und Michel, diesen Austritt zur Sprache bringen würden.

Beide EU-Politiker wurden vor dem Präsidentenpalast von Präsident Recep Tayyip Erdog˘an freundlich begrüßt, worauf es in den riesigen Prunksaal ging. Dort waren aber – oje!– nur zwei gepolsterte und vergoldete Stühle und zwei Sofas vorbereitet, die alle etwa ein U formten. Als die Plätze eingenommen werden sollten, war also nur ein Stuhl für zwei Besucher frei. Michel ging nach Einladung zu diesem Stuhl, und V. d. Leyen blieb wie bei einem bekannten Kinderspiel als Verliererin übrig. Verlierer war aber letztlich die EU, Gewinner war – wie es scheint ohne sein Dazutun – Erdogan.

Hinterher und nach dem massiven Interesse, das diese „türkische Brüskierung“, wie es gleich in EU-Landen hieß, international erregte, dürfte die protokollarische Aufarbeitung des Ablaufs des Treffens in Ankara ziemlich gesichert sein, obwohl beide Gäste, V. d. Leyen und Michel, versuchten, ihr Gesicht zu wahren.

Es wird in den Medien der EU-Länder darauf hingewiesen, dass der Ratspräsident und der Kommissionspräsident schon zwei Mal zu Besuch in Ankara waren, und dass beide Male die Stühle links und rechts bzw. beide Gästestühle auf der rechten Seite von Erdogan standen. Damals war aber Erdogan rangmäßig noch nicht in der hohen Stellung wie heute (seit November 2018). Daher steht protokollarisch nur der Ratspräsident der EU etwa im Rang Erdogans, auch wenn er nicht Präsident eines souveränen Staates, sondern nur Beamter einer Organisation ist. Ursula von der Leyen ist Kommissionspräsidentin, also Vorsitzende der Ministern etwa entsprechenden Kommissare, also mehr oder weniger im Rang einer Ministerpräsidentin.

Wie der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu nach dem Treffen in einer Pressekonferenz erklärte, war bei der protokollarischen Ausarbeitung nur eine Abordnung von Michel anwesend und keine von V. d. Leyen. Erst vor kurzer Zeit hat man aus dem Amt V. d. Leyens zugegeben, dass man wegen der Corona-Krise keine eigene Protokollmannschaft nach Ankara schicken wollte.

Hiedurch erklärt sich auch, warum nur im Speisesaal der Stuhl V. d. Leyens in der Höhe den beiden Stühlen der hohen Herren angeglichen wurde, sie aber wieder den beiden Herren gegenüber sitzen musste.

Die Ursache für diesen offensichtlichen Fehler, aus dem dieses „Sofagate“ entstand, liegt wohl im Vertrauen darauf, dass die Protokollabordnung Michels auch für V. d. Leyen die ihrem vermeintlichen Rang entsprechende Sitzposition und -qualität aushandeln würde. Nachdem V. d. Leyen aber, als die beiden Herren die einzigen zur Verfügung stehenden Einzelstühle einnahmen, merklich stöhnte und etwas hilflos mit den Schultern zuckte, lässt das vermuten, dass sie von Michel oder dessen Protokollabordnung nicht auf das, was sie erwartete, aufmerksam gemacht worden war. Dass beide hinterher behaupteten, durch Maßnahmen gegen das Protokoll nicht die Verhandlungen stören zu wollen, kann man daher unter Notlüge einordnen.

Dadurch, dass Charles Michel also diesen protokollarischen Zwischenfall mit ziemlich großer Sicherheit provoziert hatte, erwies er dem türkischen Präsidenten einen recht großen Dienst, nicht aber der Europäischen Union. Er hat sein Amt, das in den Augen der EU-Bürokratie mit dem der Kommissionspräsidentin äquivalent war, für sich aufgebessert und letztlich eine Rangdiskussion und -feststellung im EU-Parlament in Gang gesetzt. Diese mögliche Ranglistenfeststellung ist anscheinend ein von Michel gewünschter Anstoß zu einer bundesstaatlichen Entwicklung der EU mit zentraler Führung unter der Oberleitung des Ratspräsidenten. Medial war er aber immer in der zweiten Linie.

Für Präsident Erdogan zeigte sich damit klar, wie gespalten die Europäische Union doch ist. Er kann recht sicher sein, dass er auch in weiterer Folge die Europäische Union ebenso wie ihre Mitgliedstaaten gut unter Kontrolle hat.

Den orientalischen und muslimischen Betrachtern zeigt die geschilderte Szene des Besuchs der beiden höchsten Beamten der EU ganz deutlich, wer auch hier wieder die Oberhand hat und wie die Stellung der Frau innerhalb der EU angesehen wird. Hätte Michel das ihm sicher bekannte Protokoll mit V. d. Leyen vorher besprochen und hätte die Dame nicht so offensichtlich konsterniert reagiert, wäre alles wie geplant abgelaufen.

Abschließend muss noch gesagt werden, dass mir auch aus meiner eigenen langjährigen Erfahrung in der Türkei ganz klar ist, dass sich die türkischen Behörden keinen Protokollfehler erlauben, sondern eher das verhandelte Protokoll übererfüllen. Dadurch erwartet sich jede türkische Führung, dass im Gegenzug die souveräne Türkei bei diplomatischen Kontakten und Besuchen in anderen Ländern mit der erwarteten Ehrung des Landes und der erwarteten Höflichkeit empfangen wird.

Dies folgt aus dem historischen Verlust der hohen Bedeutung des Osmanischen Reiches und ebenso aus den Schwierigkeiten der Entstehung und des Überlebens der Türkischen Republik. Die Türkei konnte sich nach dem Frieden von Sevres 1919, als fast das gesamte Land unter die Sieger aufgeteilt worden war, nur aus eigener Kraft gegen die durch den 1. Weltkrieg kraftlos gewordenen Sieger auf dem Schlachtfeld behaupten. So gewann sie die heutige Größe, und ihre Bewohner gewannen dazu sehr viel Selbstvertrauen. Aber intern wird jeder Türke auch heute noch immer wieder vor Einfluss von außerhalb gewarnt. Vertrauen darf der Türke nur dem Türken!

Alle Berichte über Ergebnisse des Besuchs wurden vom „Sofagate“ in den Hintergrund gedrängt. Reden über die Gespräche von Michel und V. d. Leyen waren erfüllt von nichtssagender Leere. Ihre Absichten wurden von beiden in ihren Berichten nur abschließend erwähnt. Wahrscheinlich wurde das Feld aufbereitet für Verhandlungen der Beamtenschaft. Jedenfalls stellte V. d. Leyen fest, dass sie einen ähnlichen Vorfall nicht mehr erdulden werde.

Erst viel später beutelte sich Frau V. d. Leyen vor dem Europaparlament von jeder Schuld – wie man das schon aus der näheren Vergangenheit von ihr kennt – frei und versuchte indirekt über die Anspielung Istanbul-Konvention, Türkei und Stellung der Frau die Schuld auf die türkische Führung abzuwälzen. Dazu verwendete sie die Sätze: „Ich fühle mich verletzt und alleingelassen, als Frau und Europäerin“ und „ich kann in den Europäischen Verträgen keine Erklärung für meine Behandlung finden. Deshalb muss ich den Schluss ziehen, dass ich so behandelt wurde, weil ich eine Frau bin!“

Bei aller Wertschätzung der Frauen: In der Diplomatie gibt es kein Geschlecht, auch wenn das in heutiger Zeit nicht gut klingt. Der Diplomat ist Vertreter seines Staates oder seiner Organisation, aber nicht einer von ihrem Geschlecht bestimmten Gruppe.

Verlängerung und Verschärfung der Finanzprobleme

Im ersten Teil meines diesjährigen Berichts sprach ich von einem gravierenden Vertrauensverlust in die türkische Finanzpolitik durch die Entlassung des Leiters der türkischen Nationalbank, nachdem er den Leitzins von 17 auf 19 Prozent angehoben hatte. Entgegen den Erwartungen der türkischen Politik waren in der Folge die Auswirkungen dieses Vertrauensverlusts dramatisch spürbar, obwohl man sogleich betonte, am erhöhten Leitzins festzuhalten, bis am 15. April eine Sitzung in der Nationalbank über die weitere Gestaltung der Währungspolitik beraten werde. Bis dahin verlor die Türkische Lira (TL) weiter an Wert und auch der Aktienindex nahm um etwa zehn Prozent ab. In der genannten Sitzung der Nationalbank wurde beschlossen, den Leitzins unverändert zu belassen. Trotzdem nahm der Wert der Türkischen Lira ebenso wie der Aktienindex weiter ab.

Allerdings ist daran eine von der hohen Politik veranlasste und seit 2019 andauernde Aktion der Nationalbank in hohem Grade mitschuldig, durch welche Währungsreserven gegen TL verkauft wurden, um den schon seit 2017 schwächelnden Kurs der TL zu stützen.

Innenpolitisch kam es zu peinlichen Fragen der Opposition an die zuständigen Regierungsstellen und an den für die Politik verantwortlichen Präsidenten, wie das vermeintliche Loch von 128 Milliarden USD in den ursprünglich recht gut gefüllten Devisenkassen gekommen sei. Die größte Oppositionspartei, die CHP (siehe Teil 1), stellte nicht nur im Parlament diese Frage, sondern ließ auch Plakate drucken, in denen nach dem Verbleib des Geldes gefragt wird. Diese Plakate wurden öffentlich aufgehängt. Nachdem aber im Jahr 2022 Parlamentswahlen und die Präsidentenwahl anstehen und die Stimmung im Land laut den neueren Umfragen nicht auf eine sichere Mehrheit der Regierungskoalition hinweist, ließ Erdogan die Plakate von der Polizei entfernen.

Er ließ in einer Rede vor dem Gremium seiner Partei – auch dort sind nicht mehr alle zu 100 Prozent auf seiner Seite – die Parteimitglieder wissen, dass die CHP völlig Unrecht habe und eigentlich einen Verrat an den Interessen des Landes übe, eine Aussage, mit deren Inhalt man in der Türkei immer gut punkten kann. Allerdings ist die Lage derzeit zu brisant, und es ist daher fraglich, ob die einfachen Darlegungen Erdogans so positiv, wie man es in den letzten 19 Jahren gewohnt war, aufgenommen worden sind.

Jedenfalls sind Investoren derzeit verunsichert und nicht besonders bereit, ihr Geld in der Türkei anzulegen, weshalb die TL trotz hoher Zinsen weiter an Wert verliert. Erdogan hat von 31 Milliarden USD an Kapitalabflüssen gesprochen und führte auch die Finanzierung des sehr großen Leistungsbilanzdefizits mit zumindest 30 Milliarden USD an. Dazu kommen noch die Schulden der Industrie (hohe und günstige Kredite, siehe Teil 1) sowie private Gold- und Devisenkäufe. Nicht zu vergessen sind die staatlichen Auslandsschulden, von denen in den ersten Monaten des Jahres einige Tilgungen angestanden sind.

Teil I von „Türkische Politik der letzten Jahre zwischen Realismus und Illusionlesen Sie HIER.

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