Der ehrlose Abzug aus Afghanistan

Von Bertram Schurian

Seit dem Jahr 2010 sind aus meiner Feder schon mehrere Artikel erschienen, die sich mit der Intervention von Nato-Truppen in Afghanistan und, damit zusammenhängend, der Drogenproblematik befassten. Diese Intervention in Afghanistan findet nach beinahe 21 Jahren ein heilloses, ehrloses Ende.

Die Vereinigten Staaten von Amerika, als führende militärische Macht im Rahmen der Nato, waren mit ihren offenen und gegen das Völkerrecht verstoßenden militärischen Interventionen, wobei auch andere Mitglieder der Nato mithineingezogen wurden, im Irak, in Syrien und in Afghanistan nicht imstande, die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Eines der Ziele war, neben vielen anderen, demokratische Verhältnisse in diesen Ländern nach amerikanischem Beispiel zu errichten. Nichts davon wurde auch nur im Ansatz erreicht. Interessanterweise haben sich in den genannten Gebieten, ganz im Gegenteil, starke autoritäre Tendenzen verfestigt. Durch ihre militärischen Interventionen haben sich die USA und mit ihnen die verbündeten Nato-Partner eine schwere Niederlage eingehandelt und ein politisches Chaos in Zentralasien hinterlassen, das nicht nur weitgehende Konsequenzen für alle Nachbarstaaten von Afghanistan haben wird, sondern auch für die USA und ihre Nato-Partner.

Die USA haben sich als unfähige politische Führungsmacht und Kriegsherr erwiesen und ihr politischer Einfluss in dieser Region ist schwer beschädigt.

Um ca. 2003 habe ich in einer Nachrichtensendung vernommen, dass der ehemalige Verteidigungsminister Deutschlands, Peter Struck, gesagt habe, dass „Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde“. Damals wusste ich nicht viel mit dieser Aussage anzufangen, denn die Deutsche Bundeswehr diente der Verteidigung Deutschlands.

Heute weiß ich, dass diese Aussage einen Paradigmenwechsel der deutschen Außenpolitik einläutete. Trotz der bitteren Erfahrungen mit eigenen militärischen Interventionen im Zweiten Weltkrieg sah sich Deutschland als Nato-Mitglied gezwungen, sich an der gemeinsamen Intervention in Afghanistan zu beteiligen. Das Resultat dieser Intervention war, auch für Deutschland, kostspielig und ergebnislos.

Ehe ich zu den Kosten dieser militärischen Intervention komme, will ich einige wichtige Ausschnitte aus meinen diversen Artikeln anführen:

Afghanistan – ein geschundenes Land!

Im Jahr 2009 schrieb ich in einem Genius-Lesestück:

„Wir, als Europäer, als Deutsche, als Österreicher, haben militärisch in diesem Land nichts zu suchen. Die Geschichte lehrt uns, dass militärische Interventionen, unter welchem Titel auch geführt, zu nichts anderem führen als zu hohen Kosten und Elend. Es kann nicht Aufgabe deutscher Soldaten sein, ihr Land am Hindukusch, sprich Afghanistan, zu verteidigen, wie dies ein ehemaliger deutscher Verteidigungsminister postuliert hat. Wenn, dann verteidigen sie Deutschland in Deutschland und nirgendwo anders.“

Die Geschichte lehrt, dass das afghanische Volk im Stande war und ist, jeden Angreifer bzw. Invasor früher oder später zu vertreiben. Alexander der Große hat dies ebenso gespürt wie die mongolischen Heerscharen, und in der Folge die Expeditionskorps des Britischen Empires sowie die kommunistischen Machthaber in Moskau.

Einer der Gründe für den zähen Widerstand gegenüber fremden Invasoren oder ausländischen Beglückern ist diese lange historische Erfahrung, die eine gewisse nationale Identität, trotz aller Unterschiede von Sprache, Herkunft und Glauben im Lande geschaffen hat, und die es einfach nicht zulässt, dass Fremde über die Afghanen bestimmen. Wenn das Selbstbestimmungsrecht ein Menschenrecht ist und für alle Menschen auf dieser Welt gilt, gilt es auch für die Stämme, die zusammen das afghanische Volk bilden.

Fast dreißig Jahre Krieg haben die soziale Struktur in Afghanistan nachhaltig beschädigt und die Infrastruktur weitgehend zerstört.

Die Länder der Nato, mit einem realen Durchschnittseinkommen von US-$ 35.000 pro Bewohner, bekriegen eines der ärmsten Länder dieser Erde. Afghanistan hat ein reales Durchschnittseinkommen von US-$ 700.

Wahrlich ein ungleicher Kampf, David gegen Goliath! Anscheinend zieht man noch immer nicht die richtigen Lehren aus der Geschichte. Kein Volk mag es nämlich, wenn ein fremdes Volk über sein Schicksal bestimmt. Außerdem hat der Widerstand der Taliban gegen fremde Einflüsse einen tieferen Grund. In seiner langen Geschichte hat das Volk in Afghanistan bisher von fremder Einflussnahme nur Nachteile gehabt. Wie anders ist es zu erklären, dass die Taliban und Al-Quaida so großen Zulauf unter jungen Menschen haben, dass ihre Kampfkraft nicht unter der Auseinandersetzung mit dem Westen leidet, sondern stets stärker wird? Taliban wie Al-Quaida treten für das Selbstbestimmungsrecht ihrer Völker ein. Diese einfache Einsicht ist anscheinend schwer zu vermitteln. Anscheinend verfolgt man lieber eine falsche Politik ganz, als dass man auf halbem Wege umkehrt. Der pakistanische Terror-Experte Ahmed Rashid meint, dass die reale Gefahr von den Taliban in Pakistan ausgeht und nicht von der gleichnamigen Gruppe in Afghanistan. Diese rekrutieren sich meist aus weniger gebildeten und armen Bauern, während die pakistanischen Taliban meist aus gebildeten Männern bestehen, die ihre Ausbildung in Koranschulen genossen haben und ein ganz bestimmtes Gesellschaftsmodell aus ideologischer Überzeugung heraus verfolgen. Die Koranschulen sind die Ursache der Radikalisierung. Und diese Koranschulen werden von der Islamischen Gruppierung der Wahabiten aus Saudi-Arabien finanziert. Viel richtiger und wichtiger wäre es, das Problem in Pakistan mit vereinter Hilfe der UNO und der Nato zu lösen. Afghanistan hat eine Oberfläche von 652.000 km2, damit ist es etwas kleiner als Texas. Deutschland hat eine Oberfläche von 357.000 km2. Afghanistan ist großteils gebirgig, nur 12 % seiner Fläche ist für die Landwirtschaft bzw. für die Ernährung der Bevölkerung geeignet. Die Bevölkerung von 28,4 Millionen besteht aus 42 % Paschtunen, 27 % Tadschiken, 9 % Hazara und 9 % Usbeken sowie Turkmenen und anderen. 80 % der Bürger sind Sunniten und der übrige Teil Schiiten. 50 % der Bevölkerung spricht Dari (dem Persischen verwandt), 35 % Paschtunisch und der Rest spricht eine dem Türkischen verwandte Sprache.

Die Lebenserwartung ist im Schnitt 45 Jahre, und es werden im Schnitt 6,5 Kinder pro Frau geboren (bei uns in Zentraleuropa liegt diese Zahl zwischen 1,2 und 1,4). Die arbeitende Bevölkerung in Afghanistan beträgt 15 Millionen Menschen, wovon 80 % in der Landwirtschaft und anverwandten Bereichen tätig sind, nur 10 % in der Industrie und 10 % im Dienstleistungsbereich. 53 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, definiert nach afghanischen Standards.

Afghanistan ist jedoch reich an Naturschätzen wie Erdgas, Mineralöl, Kohle, Kupfer, Chrom und Eisenerz. Durch die unsichere Lage im Lande kann dieses Potenzial kaum zum Nutzen des Volkes entwickelt werden. Das einzige Produkt, das wirklich gut gedeiht in diesem Land, ist die Produktion von Mohn, der „die Basis ist für Opium, Heroin und seine Derivate”.

Fehlschlag der Nato-Mission ISAF in Afghanistan

Folgendes schrieb ich im März 2012 in den Genius-Lesestücken:

„Es steht heute außer Streit, dass der militärische Einsatz der Sowjettruppen in Afghanistan und die damit verbundenen hohen Kosten einen wichtigen Beitrag zum Zusammenbruch der Sowjetunion geliefert haben. Mit zum Sieg der Mujaheddin/Taliban in Afghanistan hat auch die finanzielle und Waffenhilfe der USA, geleistet über den Auslandsgeheimdienst CIA, beigetragen. Außerdem hatten die Vereinigten Staaten den Afghanen für den Fall eines Sieges Wirtschaftshilfe für den Wiederaufbau des geschundenen Landes versprochen. Der bäuerlichen Bevölkerung in Afghanistan wurde Hilfe zugesagt für den Anbau von Landwirtschaftsprodukten als Alternative zum schon damals stark verbreiteten Mohn-Anbau. Der Mohn gilt als Basisprodukt für die Produktion von Heroin. Die USA haben ihr seinerzeitiges Versprechen nicht gehalten, während die Taliban ihrem Teil des Abkommens nachgekommen sind und den Anbau von Mohn und damit auch die Produktion von Heroin praktisch auf Null gebracht haben …

Heute, anno 2012, kann man mit großem Bedauern feststellen, dass alle genommenen Maßnahmen und der Einsatz riesiger finanzieller Mittel und anderweitiger Ressourcen wenig bis nichts zu einer Befriedung dieses Landes beigetragen haben.

Es ist erstaunlich, feststellen zu müssen, wie wenig Anlass nötig ist, um in Afghanistan die Bevölkerung zu Protesten gegen die als ‚Besetzer‘ empfundenen Nato-Truppen aufzurufen. So hat eine anscheinend unbeabsichtigte Verbrennung des heiligen Buches der Moslems durch US-Soldaten zu gewaltigen anti-amerikanischen Demonstrationen in Afghanistan geführt, die mindestens dreißig Todesopfer gefordert hat. Zwei dieser Opfer waren US-amerikanische Offiziere, die im afghanischen (!) Innenministerium in Kabul ermordet wurden. Im vergangenen Jahr wurden mehr als dreißig Mitglieder der Nato-Truppen von afghanischen Soldaten ermordet. Es herrschte schon vor diesem Vorfall keine vertrauensvolle Basis zwischen den Nato-Truppen und ihren afghanischen Verbündeten. Wenn man jedoch weiß, dass der Koran auch islamisch korrekt von gläubigen Moslems durch Verbrennung vernichtet werden kann, erscheint die ganze Aufregung in einem etwas anderen Licht. Wenn sich dann der Präsident der Vereinigten Staaten hierfür entschuldigt und die so genannt ‚schuldigen‘ Soldaten bestraft werden sollen, nimmt die ganze Affäre skurrile bis gespenstige Formen an.“

Als die Taliban noch an der Macht waren in Afghanistan, brachten sie innerhalb von drei Jahren die Schlafmohnproduktion praktisch auf Null zurück. Anscheinend ist bei den Taliban ein Sinneswandel eingetreten, denn seitdem sie ihre Machtstellung im Lande weiter ausbauen konnten, floriert der Anbau des Schlafmohns. Dieser dient zur Herstellung von Rohopium, das wiederum die Basis für die Herstellung von Heroin ist. Das Land ist schon lange berüchtigt als das Herz der globalen Drogenproduktion. 70 bis 90 Prozent des weltweiten Opiums sind in den vergangenen Jahren  aus Afghanistan gekommen. 2016 gab es mit geschätzten 4.800 Tonnen Opium eine der drei größten jemals registrierten Ernten. Im Jahre 2017 wird sich diese wahrscheinlich auf ca. 9.000 Tonnen erhöhen und möglicherweise alles bisher Dagewesene übersteigen. Die Anbauflächen für Schlafmohn haben sich auf ca. 328.000 Hektar erhöht. Auf Satellitenbildern ist zu sehen, dass es kaum noch andere als Schlafmohnfelder gibt … Schlafmohn ist eine natürliche Wahl für Bauern im Krieg, es birgt wenige Risiken in einer Hochrisiko-Umgebung und viel bessere Verdienstmöglichkeiten.

Damit sind die Taliban die Hauptverdiener im Geschäft um den Schlafmohn. Die wachsenden Anbauflächen in ihren Gebieten lassen sie besteuern und nehmen für den Schmuggel Schutzgelder. Laut UN-Sicherheitsrat haben sie 2016 etwa die Hälfte ihres Einkommens aus den Drogen bezogen – bis zu 400 Millionen Dollar.

Alle gutgemeinten Anstrengungen der UNO und der US-Behörden, in die horrende Summen gesteckt wurden, um einen Wandel in den landwirtschaftlichen Gebieten Afghanistans zu anderen landwirtschaftlichen Produkten zu erreichen, waren, wie wir jetzt feststellen können, vergebens… Es halten sich aber auch Gerüchte, dass der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst beim Opium-Export involviert sein soll. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Taliban ihre eigenen islamischen Brüder und Verbindungen in den umringenden Ländern wie Iran und Pakistan zu diesem Zweck verwenden. Anzunehmen ist, dass sich die russische Mafia die Gewinnmöglichkeiten dieses Geschäftes auch nicht entgehen lässt.

Die Vereinigten Staaten haben also ihre Truppen und die ihrer verbündeten Nato-Partner aus Afghanistan abgezogen. Nicht verwunderlich, machten die Taliban rasche territoriale Gewinne im ganzen Land. Dass die ordentlichen afghanischen Militärkräfte keine ernstzunehmenden Gegner sein würden, hat sich noch erwiesen. Die Lage ist chaotisch, und die Sicherheitsinteressen der Anliegerstaaten Iran, Pakistan, Indien, Russland und China sind in Gefahr. Ob es zu einer innerafghanischen Lösung oder zu einem Bürgerkrieg kommen wird, ist offen. Zu hoffen ist, dass Afghanistan nicht ein weiteres Mal in Gewalt und Chaos versinkt.

Entscheidend ist, dass sich die Verantwortlichen in den USA, Europa und den Nato-Gremien schonungslos mit der Frage konfrontieren, wie es zu diesem katastrophalen Scheitern des Afghanistankrieges kommen konnte, bei dem die USA als stärkste Militärmacht der Welt mit ihren Nato-Verbündeten insgesamt fast 21 Jahre lang eingesetzt waren. Mehr als 3.000 Soldaten auf der Seite des Westens verloren in Afghanistan ihr Leben, darunter auch 59 Soldaten der Bundeswehr, und insgesamt 180.000 Menschen, darunter 43.000 Zivilisten. Die Kosten für die USA belaufen sich auf schätzungsweise über US-$ 2.000 Milliarden und für die Bundesrepublik auf ca. € 50 Milliarden. 20 Jahre Kriegszustand, in denen üblicherweise alle Seiten in Gräueltaten verwickelt wurden, die damit auch ihr eigenes Leben zerstörten, Soldaten, die mit posttraumatischen Belastungsstörungen nach Hause kamen und seitdem mit dem Leben nicht mehr zurechtkommen. Eine afghanische Zivilbevölkerung, die nach zehn Jahren Krieg mit der Sowjetunion in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts und nach einer kleineren Pause weitere 20 Jahre Krieg mit einer kaum vorstellbaren Serie von Qualen zu erleiden hatte.

Dies bringt mich zu einer weiteren Überlegung: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist die theoretische Grundlage des Unabhängigkeitskampfes der 13 Kolonien gegen die britische Kolonialherrschaft. Zwei Prinzipien, die nach dem Willen von Thomas Jefferson, dem späteren dritten Präsidenten der USA, verbindlich sein sollten, waren:

  • Der Grundsatz, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden und dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden.
  • Dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen bestellt werden, die ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten.

Betrachtet man die Praxis der Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika der letzten hundert Jahre, dann muss man feststellen, dass der selbsternannte Weltpolizist sich kaum an diese hehren Ziele aus seiner eigenen Verfassung gehalten hat. Als objektiver Beobachter fühlt man sich hintergangen.

Wir alle kennen natürlich den lateinischen Spruch: Quod licet jovi, non licet bovi. Ist Amerika der Jupiter und besteht der Rest der Menschheit aus Ochsen? Was hiermit zum Nachdenken anregen soll.

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Bildquelle:

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