Der Ukraine-Konflikt – warum Staaten sich bedroht fühlen müssen

Von Lothar Stix

Ein vordergründiger geopolitischer Anlass

Der Ukraine-Konflikt ist von einem „frozen conflict“ zu einem heißen kriegerischen Konflikt geworden, mit Merkmalen einer Staatensezession, bei der es belassen bleiben könnte. Der vordergründige, erklärte Anlass ist eine von Russland empfundene geostrategische Bedrohung, die ihren Ausgangspunkt vom Staatsgebiet der Ukraine aus hat. Es erübrigt sich an dieser Stelle auf alle möglichen geostrategischen Überlegungen einzugehen, da viele von diesen Überlegungen in der offiziellen Ansprache von Staatspräsident Putin offen dargelegt worden sind.

Kernaussagen von Putin spielen mit anderer Formulierung auf die „Wolfowitz Doctrine“ an, die zwar nicht offiziell das politische Leitbild außenpolitischen Handelns der USA bestimmt, tatsächlich deutet die Beobachtung der amerikanischen Wirtschaft und Außenpolitik aber darauf hin, dass diese Doktrin weiterhin verfolgt wird.

Für die Europäer, die europäischen Staaten, die der NATO zugehörig sind, aber auch jene Staaten, die nicht der NATO angehören, stellt diese fortgesetzte Entwicklung ein ernstes Problem für die Zukunft dar. Die europäische Wahl zwischen einem US-amerikanischen Hegemonialanspruch und einer großen kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland entspricht der Wahl zwischen „Skylla und Charybdis“.

Welchen Beitrag zu dieser Entwicklung hat nun die Ukraine selbst geleistet?

Vieles ließe sich an dieser Stelle anführen, aber auch hier sei wiederum auf die Rede von Putin verwiesen, der wesentliche Gründe der Fehlentwicklung in der Ukraine nach russischem Staatsverständnis aufgezeigt hat. Man muss nicht mit ihm in allem übereinstimmen, jedoch auch aus europäischer Sicht ergibt sich bisher das kritische Bild eines „failed state“, der sich zulasten staatlicher Souveränität in all ihren Ausprägungsmerkmalen in die Hände dominierender wirtschaftlicher Interessenten begeben hat. Es ist in Europa ein offenes Geheimnis, dass Politik und Wirtschaft in der Ukraine von Oligarchen bestimmt werden.

Ein Staat, der zum Organ bzw. Werkzeug wirtschaftlicher Interessenten wird, stellt in der heute noch immer geltenden – auf Völkerrecht basierenden – Staatengemeinschaft ein unkalkulierbares Risiko dar, weil ein solcher Staat nicht nur mit den in der Völkerrechtsgemeinschaft üblichen Mitteln eines Staates handelt.

Es erübrigt sich beinahe schon daran zu erinnern, dass Oligarchien keine demokratische Legitimierung haben können, denn nicht pseudodemokratische Institutionen wie Parlamente bestimmen die klassischen Staatsgewalten, sondern ausschließlich wirtschaftliche Interessen der Oligarchen.

Das internationale Dilemma staatspolitischer Fehlentwicklungen

Es ist wenig überraschend, dass sich auch in dem bereits lange andauernden Konflikt rund um die Ukraine alle Akteure auf Völkerrecht berufen. Es wird dabei häufig übersehen, dass die Grundlage des Völkerrechtes internationale Verträge sind im Sinne von Vereinbarungen zwischen Staaten oder mit internationalen Organisationen über völkerrechtliche Rechte und Pflichten und zur Regelung der internationalen Beziehungen und Zusammenarbeit. Völkerrechtliche Verträge sind, noch vor dem Recht der internationalen Organisationen, die wichtigste Rechtsquelle des Völkerrechts.

Die Grundprinzipien der Konvention über das völkerrechtliche Vertragsrecht sind jene der freien Übereinkunft, von Treu und Glauben und der Grundsatz „pacta sunt servanda“. Es versteht sich nach den Regeln des internationalen Rechtes von selbst, dass Völkerrechtssubjektivität für internationale Vertragsabschlüsse vorausgesetzt ist.

Es gibt eine Vielzahl global agierender Akteure, denen keine Völkerrechtssubjektivität zukommt, die aber gleichwohl international in das politische Geschehen eingreifen mit erheblichen Auswirkungen. Bemächtigen sich solche internationale Akteure eines oder mehrerer Staaten, so können sie gewissermaßen im rechtsfreien völkerrechtlichen Raum agieren, da sie selbst nicht sondern nur die von ihnen beherrschten Staaten völkerrechtlich verantwortlich sind.

Dass es sich bei einer solchen Entwicklung um eine Fehlentwicklung handelt, lässt sich an folgendem zusammengefasst zeigen. Staaten lassen sich auch nach heutigem Verständnis durch die Merkmale eines Staatsvolkes, eines Staatsgebietes und einer Staatsgewalt definieren.

Die Staatsgewalt umfasst die Herrschaftsmacht eines Staates über sein Gebiet und über die auf ihm befindlichen Personen sowie über die eigenen Staatsangehörigen. Es ist dabei zu beachten, dass als Staatsorgane all jene Personen, Körperschaften und Behörden gelten, die im Namen und in Vollmacht des Staates kraft eigener Zuständigkeit an der Ausübung der Staatsgewalt teilnehmen.

Selbstredend nehmen alle Staaten auf der Welt am globalen Wirtschaftsleben teil, verfügen selbst über wirtschaftliche Unternehmungen, funktional ist dies von der Ausübung der klassischen Staatsgewalten zu trennen, dem trägt das Völkerrecht in mannigfacher Art und Weise Rechnung.

Mit Blick auf Europa und die EU werfen sich nach diesem geltenden völkerrechtlichen System erhebliche Fragen auf, die bei Konflikten auf europäischem Boden sehr rasch zum internationalen Dilemma werden. Das haben die Balkankriege gezeigt, und nun zeigt sich das Dilemma neuerlich in dem Konflikt um die Ukraine.

Die EU ist kein Staat, versucht aber wie ein solcher zu agieren. Die fehlende Staatsgewalt einer EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik, konkret das Fehlen eines EU-Heeres, führt durch die Verquickung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit der NATO, zu berechtigtem Misstrauen dritter Staaten, die mit der EU und/oder der NATO konfrontiert sind.

Es ist wiederum ein offenes Geheimnis, dass die zentrale Grundlage der EU wirtschaftliche Interessen sind, der Binnenmarkt ist weiterhin ihre zentrale Aufgabe. Der dominierende Einfluss der Lobbyisten auf die Brüsseler Bürokratie ist sprichwörtlich. Bestimmen sie das maßgebliche politische Handeln der EU und der an die Vollziehung gebundenen EU-Mitgliedsstaaten, dann ergibt sich eine Parallele in der Einschätzung der EU durch dritte Staaten im Vergleich zu einem oligarchischen System wie jenem der Ukraine.

Die Verbindung eines wirtschaftlichen, staatlichen Komplexes auf einem Staatsgebiet, kann – wegen der globalen Ungebundenheit nichtstaatlicher Akteure – bei Nachbarstaaten berechtigte Sorge auslösen, vor allem dann, wenn sich ein solcher Komplex auch noch eines militärischen Bündnisses bedienen kann.

Auf einen weiteren Umstand, der die Entwicklung der USA betrifft, wurde bereits viel früher hingewiesen. In den USA vollzieht sich ein Prozess, der die dortigen Konzerne mehr und mehr zu Bestandteilen der Staatsstruktur werden lässt. Bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat J. K. Galbraith in „The New Industrial State“ darauf hingewiesen, dass diese Riesenbetriebe, deren Umsatz mehr als die Hälfte des gesamten Wirtschaftsumsatzes in den USA ausmacht, das Rückgrat bilden, dass die tatsächliche Steuerung ausübt. Er nannte das „Technostruktur“.

Diese Entwicklung hat sich ungebremst bis in die Gegenwart fortgesetzt, und diese Technostruktur löste sich von der bisherigen Kontrolle und wurde zu einer sich selbst steuernden Oligarchie. Die Interessen dieses Gebildes sind nicht mehr mit jenen der Aktionäre identisch. Der technologische Fortschritt wird gefördert, der Markt wird gesteuert, Risiken werden vermieden.

Es ist bei dieser Verbindung zu beachten, dass der Staat selbst der wichtigste und größte Kunde ist. Bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden 55–60 % des Bruttosozialproduktes in den USA alleine für das Verteidigungsbudget ausgegeben. Der Staat reguliert die Gesamtnachfrage, und mit seinen Interessen identifiziert sich die „Technostruktur“.

Dieser Prozess hat dazu geführt, dass die privatwirtschaftlichen „Strukturen“ mehr und mehr zu Bestandteilen der Staatsstruktur geworden sind. Sie werden auf vielen Ebenen des Staates zu Teilen der staatlichen Bürokratie, was sich aus dem anderen Staatsverständnis der Vereinigten Staaten erklären lässt.

Legt man die Untersuchungen von Galbraith zugrunde, dass die „Technostruktur“ allmählich zu Organen des Staates wird, dann leiten sich zwangsläufig staatliche Handlungsmaximen der USA aus wirtschaftlichen Interessen der „Technostruktur“ ab. Verbinden sich nun Teile dieser Technostruktur mit einem anderen Staat, wie beispielsweise jenem der Ukraine, dann besteht berechtigtes Misstrauen dritter Nachbarstaaten, was die politische Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine gegenüber Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika betrifft.

Eines der internationalen Dilemmata bei dieser staatspolitischen Fehlentwicklung besteht darin, dass es sich bei den beschriebenen wirtschaftlichen Akteuren einer „Technostruktur“ gleichzeitig um global tätige wirtschaftliche Akteure handelt, denen keine völkerrechtliche Subjektivität zukommt. Diese sind in geopolitischen Konfliktsituationen keine geeigneten Verhandlungspartner, weil nicht paktfähig.

Kriege werden nicht nur von Staaten geführt

Die Geschichte kennt hinlängliche Beispiele dafür, dass Kriege nicht nur von Staaten geführt werden. Historisch eines der signifikantesten Beispiele war die Ostindien-Kompanie mit ihrer spezifischen Stellung und Funktion im British Empire. Vergleichsweise ähnlicher Strukturen und Mechanismen haben sich auch andere ehemalige Kolonialmächte bedient, wie beispielsweise die Portugiesen oder die Niederländer.

Das Wiederaufflammen religiös motivierter kriegerischer Strömungen, politisch global zusammengefasst unter dem Begriff des „Terrorismus“, haben das Kriegsgeschehen unter anderem in Afghanistan, im Irak und auf der Arabischen Halbinsel bestimmt, nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch die „Warlords“ auf dem afrikanischen Kontinent.

Typischerweise verbindet sich das Phänomen kriegsführender nichtstaatlicher Akteure mit fehlender staatlicher Souveränität im jeweiligen Raum des Kriegsgebietes. Die Brisanz solcher Entwicklungen ist regelmäßig darin gelegen, dass mit den beschriebenen Akteuren ohne völkerrechtliche Subjektivität nicht sinnvoll verhandelt und auch regelmäßig keine gültigen völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden können. Staaten, Staatengemeinschaften alleine oder zusammen mit internationalen Organisationen sind dann gezwungen, mit militärischen Mitteln den Konflikt unter Kontrolle zu bekommen. Die beteiligten Akteure der ursprünglichen Kriegsführung zur Verantwortung zu ziehen wird schwierig, wenn es sich um „Organe“ nicht kriegsbeteiligter Staaten handelt.

Völkerrechtlich gilt es als geübte Praxis und anerkannt, kriegerischen Handlungen nichtstaatlicher Akteure auf dem Gebiet eines anderen Staates, der seine Souveränität nicht mehr ausüben kann, wirksam entgegenzutreten. Völkerrechtlich nicht anerkannt ist hingegen der weltweite Drohnenkrieg gegen den Terrorismus mit Tötungshandlungen auf dem Gebiet souveräner Staaten.

Unkontrollierte internationale Akteure die Kriege führen können

Das Bild von der klassischen Kriegsführung hat sich technologisch gewandelt. Die global immer dichter werdende Vernetzung sensibler Infrastrukturen (Verkehr, Energie, Kommunikation, Daten) macht neue Formen einer hybriden Kriegsführung möglich.

Das US Cyber Command hat beispielsweise erfolgreich mit dem Computervirus „Stuxnet“ im Jahr 2007 etwa 1.000 iranische Zentrifugen für die Anreicherung nuklearen Sprengstoffs unbrauchbar gemacht. Ein anderes Beispiel ist der Hackerangriff am 2. Dezember 2015 in der westlichen Ukraine, dem drei Stromversorger zum Opfer gefallen sind. Diese haben 235.000 Haushalte mit Strom versorgt, und nachdem gleichzeitig die Telefonanlagen sabotiert wurden, waren auch die Supportdienste blockiert.

Während sich der erste Vorfall staatlichem Handeln zuordnen lässt, für welches ein völkerrechtliches Reglement existiert, lässt sich der zweite Cyberangriff nicht sicher staatlichem Handeln zuordnen. Es wurden für diesen Hackerangriff zwar russische Akteure vermutet, erwiesen ist dies jedoch nicht.

Ein eigenes Problemfeld stellt die Entwicklung der KI durch Konzerne wie Google oder IBM dar, bei denen es sich bekanntermaßen nicht um völkerrechtliche Subjekte handelt. Der Direktor des Future of Humanity Instituts in Oxford Nick Bostrom hat dies mit dem Vergleich beschrieben, „wenn wir die Entwicklung der künstlichen Intelligenz vorantreiben, sind wir wie Kinder, die mit Dynamit spielen“.

Dieses Thema ist in enger Verbindung mit Algorithmen wie Skynet zu sehen, die der Identifikation von Menschen dienen, aber auch mit autonomen Waffensystemen, Nanotechnologie und anderem mehr. Seit längerem wird in vielen Staaten der Welt Vorsorgeplanung getroffen gegen „Blackout Szenarien“, die geeignet sind, ganze Staaten ins Chaos zu stürzen.

Fest steht aber, dass völkerrechtlich unkontrollierte Akteure ohne Völkerrechtssubjektivität wie Technologiekonzerne durch die neuen Technologien in die Lage versetzt sind, Kriege zu führen, und auch große Staaten zu destabilisieren, ohne dass sie dafür ohne weiteres zur Verantwortung gezogen werden können. Bilden Konzerne den Bestandteil einer „Technostruktur“ oder auf sonstige Art ein Organ von großen Staaten wie beispielsweise in China, dann können völkerrechtlich gesehen die Staaten selbst nicht zur Verantwortung gezogen werden und die nichtstaatlichen Akteure sind faktisch nicht verfolgbar.

Es folgt daraus aber auch, dass kriegsfähige nichtstaatliche Akteure, die sich in einem Staat mit schwacher oder nicht mehr vorhandener Souveränität niederlassen, für benachbarte Staaten eine effektive Bedrohung darstellen können, ohne dass dies vordergründig ersichtlich sein muss.

Der Wettlauf um technologische Vorherrschaft – 5 vor 12 für neue Steuerungssysteme

Das Entstehen neuer Schlüsseltechnologien wie Quantentechnologie, Nanotechnologie, Gentechnologie, KI, Internet der Dinge, Biosensoren etc. hat weltweit zu einem Wettlauf um die technologische Vorherrschaft geführt. Die Geschichte der industriellen Revolution lehrt, dass der entscheidende technologische Vorsprung einer Kultur oder eines bzw. mehrerer Staaten zu einer jahrhundertelangen Machtdominanz führen kann. Es mag in diesem Zusammenhang vor allem auf die Geschichte des British Empire verwiesen werden.

Die Situation hat sich insoferne verändert, als der Technologiewettlauf nicht mehr ein solcher von überwiegend staatlichen Akteuren ist, sondern durchaus ein Wettlauf zwischen nichtstaatlichen Akteuren, die global agieren. Abgesehen vom Schreckgespenst der sogenannten „Singularität“, die sich definitionsgemäß jeglicher menschlichen Steuerung entziehen würde, würde die technische Überlegenheit nichtstaatlicher Akteure das gesamte derzeit geltende politische Steuerungssystem, sei es durch staatliche Verfassungsordnungen oder sei es durch das Völkerrecht, unterlaufen bzw. obsolet machen.

Es ist bei einer solchen Entwicklung gleichgültig, ob es sich bei technischer Machtakkumulation von nichtstaatlichen Organisationen um staatliche „Organe“ im Sinne einer Technostruktur handelt, weil bezweifelt werden darf, dass eine solche „Technostruktur“ das staatliche Gefüge unangetastet lassen würde.

Die hybride Entwicklung in der Kriegsführung kann mit der hybriden Entwicklung globalen Handelns nichtstaatlicher mit oder ohne staatliche Akteure durchaus verglichen werden, weil beide Entwicklungen aufzeigen, dass derzeit keine geeigneten politischen internationalen Steuerungssysteme existieren.

Es ist 5 vor 12 für die Staaten, die Staatengemeinschaften und internationalen Organisationen die beschriebenen Probleme einer Lösung zuzuführen, da andernfalls weltweit – nicht nur in Europa – viele neue Konflikte drohen.

Wenn Ihnen dieser Artikel besonders gefallen hat, können Sie uns gern eine kleine Spende überweisen: An die Genius-Gesellschaft für freiheitliches Denken, Wien, IBAN: AT28 6000 0000 9207 5830 BIC: OPSKATWW. Auch über kleine Beträge wie € 20,– freuen wir uns und sagen ein herzliches Dankeschön.

Bildquelle:

  • polina-rytova-1dGMs4hhcVA-unsplash: Polina Rytova via Unsplash

About the author

de_ATGerman