Von Gerulf Stix
Eine moderne Faustregel besagt, dass ein Drittel der Weltbevölkerung in Großstädten, ein weiteres Drittel in Städten und das letzte Drittel „am Land“ wohnt. Geht man vom Prozentanteil der städtischen Bevölkerung an der jeweils gesamtstaatlichen Einwohnerzahl aus, dann zeigen sich rasch Schwerpunkte. Von Stadtstaaten abgesehen, schießt Belgien mit 98 % städtischer Bevölkerung in Europa den Vogel ab. Gleich danach folgen einige der Emirate. Dann folgen Island mit 94 %, Israel mit 92 % und Japan mit ebenfalls 92 %. In Österreich beträgt die städtische Bevölkerung „nur“ 68 %, in Deutschland etwas mehr, nämlich 74 %, also rund drei Viertel der Bevölkerung![1] Die Zahlenspielerei fortsetzen zu wollen, käme einer Verzettelung gleich. Hier geht es nur darum, die Größenordnung der längst eingetretenen Verstädterung des Menschen zu beleuchten. Besondere Beispiele werden noch später das eine und andere der hier auszubreitenden Argumente belegen.
Ein erster Vergleich lässt unmittelbar die Riesenkluft zwischen uns modernen Menschen des industriellen sowie des Massenverkehr-Zeitalters und unseren Vorfahren vor 5.000 oder mehr Jahren erkennen. Soweit unsere Vorfahren Sammler und Jäger waren, lebten sie in kleinen Gruppen und in weiten Gebieten. Aber auch als einigermaßen sesshaft Gewordene und Ackerbautreibende lebten sie in kleinen Verbänden und winzigen Dörfern. Erst in geschichtlicher Zeit – etwa ab 3.000 v. Chr. – kam es zur Bildung von Städten, meist ummauert. Noch bis ins späte Mittelalter gab es auf der ganzen Welt insgesamt nur 300–500 Millionen Menschen. Erst um das Jahr 1.800 wurde die erste Milliarde erreicht. Heute, nur rund 200 Jahre später, nähert sich die Erdbevölkerung der 8-Milliarden-Grenze und wird bald 9 Milliarden erreichen. Mithin ergibt sich grob eine Verzwanzigfachung! Das ist eine lange Entwicklung, die in jüngster Zeit schier unglaubliche Höhen erreicht hat.
Evolution in Kleingruppen – Verstädterung in Massen
Die ewig lange Evolution hat uns auf Kleingruppen hin „programmiert“. Die von uns selbst entwickelte Zivilisation hingegen hat uns Menschen binnen sehr, sehr kurzer Zeit zum kleinen Rädchen in unüberschaubar gewordenen Menschenmassen gemacht. Das muss Folgen haben – und hat sie auch.
Ein ins Auge stechendes Phänomen ist die weltweite Verstädterung. Wir müssen ihr unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Europas Hauptstädte platzen aus allen Nähten. Um hier ein paar der wichtigsten in alphabetischer Reihenfolge der Staaten aufzuzählen: Berlin 3,5 Mio. Einwohner, Paris 2,3 Mio., London 8,3 Mio., Rom 2,6 Mio., Warschau 1,7 Mio., Moskau 11,6 Mio., Stockholm 0,9 Mio., Madrid 3,2 Mio. und Kiew 2,8 Mio.
Wien zählt ungefähr so viele Bewohner wie Budapest, nämlich rund 1,7 Mio. Einwohner. Die Ballungsräume rund um die eigentlichen Hauptstädte mit ihren „Speckgürteln“ sind natürlich viel größer. Diese Frage wird uns noch beschäftigen.
Asien sticht bekanntlich auch hinsichtlich der Verstädterung heraus. Allein China zählt mehr als 100 Städte mit Einwohnerzahlen von über einer Million. Da ragt z. B. Shanghai mit rund 20 Mio. Einwohnern heraus. Im Vergleich dazu besitzt Deutschland gerade einmal fünf Städte mit über einer Million Menschen, die mit Abstand größte davon ist eben Berlin.
Um noch die beiden rivalisierenden Weltmächte zu nennen: Die USA haben mit Washington eine relativ kleine Hauptstadt mit nur 0,63 Mio. Einwohnern, während New York 8,3 Mio. zählt. Peking besitzt rund 15 Mio. Einwohner, wird aber von Shanghai überrundet.
Allen diesen Großstädten ist freilich gemeinsam, dass sie in enorme Ballungsgebiete eingebettet sind. New York etwa umfasst mit seinem Ballungsraum immerhin fast 20 Mio. Menschen. Jüngste Wissenschaftsstudien besagen, dass allein die Abwärme (!) aus den Ballungsgebieten der Nordhalbkugel den allenthalben bemerkbaren Temperaturanstieg in unseren Breitengraden erklären könnte. Das Thema der Abwärme (egal aus welchem Energieverbrauch) erklärt zum Teil den Temperaturanstieg bei uns, wird aber in den Debatten über den Klimawandel nicht besonders erwähnt.[2]
Hinsichtlich der Ballungsräume schlägt Japan mit seinem außerordentlich hohen Grad an Verstädterung zufolge der Insellage mit seiner Hauptstadt Tokio so ziemlich alles. Im Ballungsraum von Tokio leben 30 Millionen Menschen. Vielleicht nur noch übertroffen vom Ballungsraum um São Paulo mit seinen möglicherweise derzeit 32 Millionen Bewohnern. Alles winzige Rädchen in einem Massenbetrieb! Aber auch Indien, Afrika und Südamerika sind nicht von schlechten Eltern. Der Ballungsraum rund um die jeweilige Stadt zählt um Mumbai (früher Bombay) 12,5 Mio., um Kairo 11,1 Mio. und um Rio de Janeiro 12 Mio. Menschen.
Angesichts dieser Größenordnungen nimmt sich Österreich mit seinen derzeit insgesamt rund 9 Millionen Einwohnern bescheiden aus. Aber auch diese rund 9 Mio. bedeuten, dass sich innerhalb von nur einer Lebensspanne die frühere Einwohnerzahl von rund 6 Mio. um 50 Prozent erhöht hat! Von dieser Bevölkerung, deren Zuwachs sich hauptsächlich aus Zuwanderung erklärt, leben gut zwei Drittel in Städten. Diese Verstädterung beeinflusst selbstverständlich die Sachpolitik und das Parteienwesen. Das wird im Folgenden zu belegen sein.
Die Gesellschaft hat sich verändert
Mit der Verstädterung ist die Menschheit in einen neuen Abschnitt der Evolution eingetreten. Das klingt hochtrabend. Aber diese Worte sind nur der stammelnde Versuch, die Wirklichkeit zu beschreiben, in der wir leben. Die Evolution läuft bekanntlich in sehr langen Zeiträumen ab. Dagegen nehmen sich die Entwicklungen der Gesellschaft in den zurückliegenden 100 bis 200 Jahren wie ein Wimpernschlag der Geschichte aus. Doch die rasanten Veränderungen allein innerhalb einer nun zu Ende gehenden Lebensspanne von etwa 80 Jahren sind gigantisch. Das meiste davon erkennen wir erst im Rückblick. Dabei steht fest, dass wir uns längst inmitten einer gewaltigen Umbruchszeit befinden, die sich über die Lebensdauer von gleich mehreren Generationen erstreckt und deswegen nicht leicht erkannt werden kann. Die Auswirkungen allerdings bekommen wir jetzt schon zu spüren.
Eine davon ist eben die Verstädterung, obschon diese ansatzweise im Mittelmeerraum in der Antike, im Norden wohl erst im Mittelalter begann. Damals betraf dies nur eine Minderheit in der Gesellschaft. Heute sind es bei uns in Europa fast drei Viertel aller Einwohner. Das verändert in verständlicher Weise die Mentalität innerhalb der Bevölkerung.
Eine städtische Bevölkerung bewertet alles aus ihrem gegebenen Blickwinkel. Gleichgültig ob es um die Versorgung mit jedem und allem geht oder um typische Verkehrsfragen. Oder ob Gesundheits- und Schadstoffbelastungen oder Schul-, Bildungs- und Kulturfragen an der Tagesordnung sind. Immer wird stillschweigend von den Lebensumständen in städtischen Bereichen ausgegangen. Das „Land da draußen“ wird entweder nur kurz gestreift oder schlichtweg übersehen, mit anderen Worten: kaum beachtet. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Allgemein zieht sich durch alle Sachbereiche ein ausgeprägter Individualismus hin bis zu einem Überlegenheitsgefühl gegenüber dem entfernt wohnenden Landbewohner, dem „Provinzler“. Kannte in den früheren Dörfern, Marktgemeinden oder den seltenen Kleinstädten fast jeder jeden, so ist an Stelle dessen längst die Anonymität der Großstadt getreten. In dieser kennt man vielleicht gerade noch den Bewohner der Nachbarwohnung, aber schon nicht mehr alle Bewohner im selben Wohnblock bzw. Hochhaus. Daher wird alles „individualistisch“ gemacht und geplant. Das dörfliche Gemeinschaftsleben erlischt in den Großstädten. Bestenfalls splittert es sich da und dort auf. Auch hier bestätigten Ausnahmen die Regel.
Zweitens wird ganz allgemein das umgebende Land als „Freizeitraum“ wahrgenommen. Im Zeichen des Massentourismus gilt das auch für ferne Länder. Wie der Städtetourismus beweist, zieht es den Städter oft auch in fremde Städte. Die Bedürfnisse der Landbevölkerung interessieren nur am Rande. Immer mehr wird das Leben in der Stadt zum Normalfall schlechthin. Das wirkt sich letztlich auch in der Politik aus, wie noch zu zeigen sein wird.
Die Versorgung der Städte kommt von außen
Nur allzu gern vergessen die meisten Stadtbewohner, dass alle Städte, alle Ballungsräume mit den wichtigsten Lebensgütern von außen versorgt werden müssen. Das beginnt in den allermeisten Fällen mit dem Trinkwasser. Die Wiener Hochquellenleitung ist berühmt. Anderswo geht es um gigantische Meeresentsalzungsanlagen. Manche Städte inmitten hoher Berge sind hinsichtlich der Trinkwasserversorgung begünstigt.
Für die nötige Beheizung werden Unmengen an Holz, Kohle und Koks herangekarrt (altmodisch) oder Strom, Öl, Gas und Fernwärme in riesigen Leitungen oder Pipelines hertransportiert (modern, aber kritisch). Abgesehen von Eigenanlagen wie Klärgaserzeugung, Blockheizkraftwerke o. ä. muss die gesamte Energieversorgung der Städte von außen her bewerkstelligt werden! Dafür sind Unmengen an Energieträgern oder der Output riesiger Kraftwerke nötig. Da lässt sich gut über eine zukunftstaugliche Energieversorgung von Einfamilienhäusern philosophieren. In den Städten gibt es nicht viele Einfamilienhäuser! Der Riesenbedarf der Städte an Strom wird durch das stromfressende Internet und die Mobiltelefonie noch vermehrt. Die Energieversorgung des innerstädtischen Verkehrs muss an dieser Stelle zwar ebenfalls wegen ihrer Größenordnung erwähnt werden, doch verdient die Verkehrsproblematik einen eigenen Abschnitt.
Zur Versorgung der Städte gehören logischerweise auch die großen Mengen vielfältiger Rohstoffe und Fertigprodukte aller Art, besonders Bekleidung und Schuhe. Einige Städte sind durchaus berühmt für ihre einschlägigen Fabriken und Handwerke. Doch fallen diese oft für die Eigenversorgung weitgehend aus bzw. übersteigen diese, weil die Fabriken eben dank ihrer Berühmtheit viel exportieren. Hingegen benötigen die Hersteller Rohstoffe und beschäftigen häufig Pendler. Beides wirft Verkehrsprobleme auf.
Ein eigenes Versorgungskapitel stellen die Lebensmittel dar. Hier genügen wenige Stichworte: Fleisch (rotes und weißes), Eier, Milch und Milcherzeugnisse kommen in riesigen Mengen meist von außen, vom „Land“. Ebenso Fisch, Obst und Gemüse; oft importiert aus benachbarten oder sogar weit entfernten Ländern. Dadurch entstehen Transportprobleme in der Nachbarschaft oder rund um den Globus. Dazu kommen Unmengen von Getränken aller Art.
Kurz und gut (oder schlecht) hängt die gesamte städtische Bevölkerung hinsichtlich ihrer kompletten Versorgung am Tropf gut organisierter Zufuhren von außen. Wenn diese tägliche Zufuhr in riesigen Mengen und vielfältigster Art wodurch auch immer unterbrochen wird, entstehen im Handumdrehen Krisen. Je nach Intensität der Krise drohen den Stadtbewohnern Elend oder letztlich Tod. Sogar eine sich anbahnende Pandemie stürzt so manchen Ballungsraum gleich in Panik. Wie soll das enden, wenn erst wirklich ernste Krisen entstehen?
Die Verkehrspolitik wird von der Sichtweise der Stadt beherrscht
Dem politischen Beobachter fällt auf, dass bei nahezu allen Diskussionen rund um den Massenverkehr die innerstädtischen Verkehrsprobleme im Vordergrund stehen. Da geht es vorrangig gegen das Auto als Fortbewegungsmittel. Derzeit gilt die hauptsächliche Kritik den Abgasen und dem Lärm. Viele Städte haben bereits ein Dieselverbot erlassen. Die Verbrennungsmotoren sollen Elektroantrieben weichen. Aber Autos sind überhaupt schlecht. Hingegen soll der öffentliche Verkehr ausgebaut werden. Übertrumpft werden die Hochgesänge auf die „Öffis“ praktisch nur mehr vom Lob für den Rad- und Rollerverkehr. Gefordert wird ein massiver Ausbau der Radwege. Vor allem jüngere Menschen, die sich fit dafür fühlen, machen sich dafür stark. Sie stellen auch das Gros der in den Städten immer stärker werdenden Grünparteien. Das Auto muss weg, die „Öffis“ sollen ausgebaut werden und ansonsten müssen möglichst breit ausgebaute „freie Bahnen“ für die vielen Radler geschaffen werden!
Bei allem Verständnis für die durch den Massenverkehr verstopften Städte lässt sich aber nicht leugnen, dass diese Diskussionen fast nur den innerstädtischen Verkehr betreffen. Dass die Verkehrsprobleme außerhalb der Ballungsräume, gewissermaßen „auf dem Land“ durch ganz andere Schwerpunkte charakterisiert sind, kommt dabei kaum zum Ausdruck. (Das Phänomen des Transitverkehrs wird uns später noch beschäftigen. Hier sei es ausgeklammert.) Das markanteste Beispiel betrifft die Pendler. Sie strömen zu Tausenden tagtäglich in die Städte. Oft müssen sie weite Strecken zwischen ihrem Arbeitsplatz und ihrer vielleicht sehr weit draußen angesiedelten Wohnung zurücklegen. Und was ist mit den Schulkindern der Landbevölkerung? Oder deren Wegen zum Arzt, zu den Behörden oder sonstigen Verrichtungen? „Sollen sie doch mit der Bahn fahren oder mit dem Bus!“ Aber selbst gut ausgebaute Regionalbahnen fahren nur entlang einer Achse und enden an Bahnhöfen, die in den Städten irgendwo liegen. Und der Bus fährt vielleicht nur dreimal am Tag und hält auch nicht überall. Vom Zeitaufwand für Umstiege, Wartezeiten usw. wird überhaupt nicht geredet. Und mit dem Rad zu fahren, gelingt vielleicht noch in den Ballungsräumen; über längere Entfernungen ist das tägliche Radfahren zu vergessen.
Somit veranschaulicht die gesamte Diskussion der Verkehrspolitik, wie sehr die besonderen Probleme der Stadtbevölkerung im Vordergrund stehen. Dabei wurde hier nur der Personenverkehr beleuchtet. Der für die Gesamtversorgung der Städte immens wichtige Güterverkehr muss hier außer Betracht bleiben.
„Leistbares Wohnen“
Als weiteres Beispiel für die Folgen der rasant zunehmenden Verstädterung mag die Wohnungsfrage dienen. „Leistbares Wohnen“ in den Städten und im sogenannten Speckgürtel rund um diese findet sich in den Wahlprogrammen praktisch aller politischen Parteien oder einschlägiger Bürgerinitiativen. Tatsächlich fällt es in den Ballungsräumen schwer, eine erschwingliche Wohnung zu einem tragbaren Preis zu finden. Erst vor Kurzem wurde im rot-grün regierten Berlin eine umstrittene Mietpreis-Deckelung eingeführt. In Wien tobt ein Dauerstreit um die Vergabe von Wohnungen im „Gemeindebau“.
Jeder geschulte Ökonom weiß, dass der Marktzugang vom Preis geregelt wird. Wird der Preismechanismus abgeschafft und durch Behördenentscheide – eine planwirtschaftliche Maßnahme! – ersetzt, so wird erstens privatwirtschaftlich nicht mehr gebaut, weil sich das Kapital verflüchtigt, und zweitens der steigende Wohnungsbedarf behördlich einfach nicht mehr gedeckt werden kann (ausufernde Wartezeiten). Eine Binsenwahrheit. Trotzdem wollen Utopisten aller Art – um Kommunisten, Sozialisten und ähnlich angehauchte Grüne höflich zu umschreiben – diese Wahrheit nicht und nicht zur Kenntnis nehmen. Sie träumen von geplanter amtlicher Wohnraumbewirtschaftung, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass sämtliche derartige in der Welt praktizierten Systeme völlig gescheitert sind.
Merke: Ständiger Massenzustrom in Städte und deren Ballungsräume lässt sich anders als durch steigende Mieten einfach nicht bremsen oder gar stoppen. Hält der Massenzustrom dennoch an, so werden an den Rändern der Ballungsräume Slums entstehen. Will das die öffentliche Hand verhindern, indem sie in den Slums Wohnkasernen (aus Steuermitteln) baut, so endet das in „Banlieues“ nach abschreckendem französischem Beispiel. So bitter die Einsicht auch schmeckt: In den Städten wird es immer steigende Wohnkosten geben, weil der Massenzuzug in die Ballungsräume anhält. Das ist ein Naturgesetz.
Tirol und die Alpen
In dem kleinen österreichischen Bundesland Tirol kumulieren sich die städtischen Probleme mit denen des Verkehrs und des Wohnens. Deshalb mag Tirol als Beispiel beleuchtet werden. Nicht allein die Stadt Innsbruck mit ihren Wachstumsproblemen, sondern das ganze Land mit beengtem Siedlungs- und Verkehrsraum inmitten Europas leidet unter der eingetretenen Entwicklung. Insofern bietet Tirol ein tragisches Musterbeispiel für die Folgen von Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Flächenverbrauch, Massenverkehr und Landnutzung.
Die Alpen – das bedeutendste Verkehrshindernis zwischen Nord- und Südeuropa – bieten in Tirol gerade einmal 12 % Siedlungsfläche. Noch vor rund 70 Jahren, was einer einzigen Lebensspanne entspricht, betrug die Tiroler Wohnbevölkerung rund 400.000 Menschen. Heute leben in Tirol fast 800.00 Menschen. Das entspricht einer Verdoppelung – bei gleichgebliebener Siedlungsfläche! Bevölkerungswachstum, Zuwanderung und Wohlstand haben eine zunehmende Verstädterung bewirkt. In allen Tälern wurde der Siedlungsraum ausgedehnt, allen voran im Inntal. Dort wachsen die Orte mehr oder weniger zusammen.
Ins Auge sticht der Ballungsraum um die Stadt Innsbruck. Diese ist auf heute rund 140.000 Bewohner angewachsen – und platzt aus allen Nähten. „Leistbares Wohnen“ ist ein Dauerthema für diese Stadt mit ihren etwa 20.000 Studierenden an der Universität, davon ca. 8.000 Ausländer. Desgleichen der Verkehr. Die dank der Studierenden recht junge Bevölkerung der Landeshauptstadt ist überwiegend „grün“ eingestellt und will billige Wohnungen, „Öffis“ (die sowieso gut ausgebaut sind) und dazu möglichst viele Radwege. Die nach Innsbruck Ein- und Auspendelnden sehen das etwas anders. Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor?
Hinzu gesellt sich das berüchtigte Problem des Transitverkehrs über den Brennerpass.
Das Inntal von Kufstein bis Innsbruck und das Wipptal von Innsbruck bis zum Brenner (und weiter in Südtirol) leidet unter den rund 2,5 Millionen (!) LKW-Fahrten, die jährlich diese Strecke belasten. Daran wird der in Bau befindliche Brennerbasistunnel nach seiner Fertigstellung nur wenig ändern. Dieses ungelöste Transitproblem kreuzt sich mit den anderen Verkehrsproblemen im Nordtiroler Ballungsraum. Die asphaltierten oder zubetonierten Flächen wachsen von Jahr zu Jahr dramatisch an, versiegeln den Boden und beschneiden den Siedlungsraum – und die Landwirtschaft.
Aber die Alpen in ihrer Gesamtheit bilden nicht nur ein Verkehrshindernis, sondern dienen der mittlerweile mehrheitlichen Stadtbevölkerung zugleich als beliebter „Freizeitraum“. Wie anziehend die Alpen als Freizeitraum geworden sind, zeigen die Rekordzahlen des Tirol-Tourismus im Sommer wie im Winter. Aus ganz Europa strömen die Städter in die Alpen. Auch viele „Tiroler Städter“ möchten ihre Freizeit möglichst ungestört in den umliegenden Bergen verbringen, was verständlich erscheint.
Angesichts dieser Entwicklung, die unterschiedliche Ursachen hat, wird jedem Beobachter einsichtig, dass in den Alpen die Interessen der Städter mit ihren Freizeitwünschen und die der einheimischen Berg- und Talbewohner mit zum Teil anders gelagerten Interessen in Konflikt geraten. Eine subjektive Beurteilung dieser Situation: Die Verstädterung, der Massenverkehr und der ausufernde Tourismus werden die alpine Landschaft ruinieren.
Politik und Parteienwesen
Damit befinden wir uns schon mitten in der Politik. Überall in Europa beklagt man den Rückgang der großen Volksparteien. Bei den Gründen dafür, die erörtert werden, wird die dramatisch angewachsene Verstädterung der Lebensverhältnisse meist übersehen. Der zunehmende Individualismus der Stadtbevölkerung, das Erlöschen des Gemeinschaftslebens bzw. dessen Aufsplitterung und der damit einhergehende Mentalitätswandel verändert auch die Politik. Die Großparteien werden kleiner, es bilden sich „individuellere“ Klein- und Kleinstparteien. In deren Fokus stehen die unmittelbaren Probleme in den Städten, weniger die des ganzen Landes. Daraus erklären sich Eigentümlichkeiten der Verkehrsdiskussion wie das Ringen um Radwege und der „Kampf gegen den Verbrennungsmotor“. Aus dieser Mentalität erklärt sich aber auch der Kampf für „leistbares Wohnen“ und gleichzeitig für „mehr Grünzonen“. Schließlich will man ja in der Stadt gut leben…
Unlogisch erscheint da das insbesondere bei den Grünen vorhandene Eintreten für noch mehr Zuwanderung und überhaupt für „grenzenlose Freiheiten“. Tatsache ist aber, dass diese Sichtweise reüssiert. Das Land „da draußen“ wird entweder mehr oder weniger übersehen oder als „Freizeitraum“, in dem man sich als Individuum möglichst ungehindert bewegen will, betrachtet. Wenn es um andere Fragen als um bloße Freizeiterwägungen geht, dann wird oft das eigene Land übersprungen und stattdessen gleich die ganze Welt ins Auge gefasst. Vielleicht sind die Echtzeit-Nachrichten, das Internet und nicht zuletzt die zahlreichen Flugreisen in ferne Erdteile daran schuld. Die Verstädterung trifft sich mit dem digitalen Schrumpfen der Welt. Dem Stadtbewohner fällt es praktisch leichter als dem Landbewohner, die technischen Möglichkeiten zu nutzen und seine Freizeit in Fernreisen zu investieren. Anders als der Landbewohner braucht sich der Mieter einer Stadtwohnung kaum um Einfamilienhaus, Garten oder gar Tierhaltung (Bauernschaft!) zu kümmern. Noch leichter geht das, wenn man als Single lebt oder in unverbindlicher Partnerschaft und vielleicht auch noch kinderlos ist. Das will keine Kritik sein, vielmehr Analyse bieten.
Andererseits erwachsen aus dieser Mentalität und ihrer praktischen Anwendung schneller als anderswo Ideen für die „Rettung der Welt“. Im Alltag lebt man in der Stadt. Zu anderen Zeiten zieht es einen ins Umland oder in fremde Länder und Erdteile. Diesen Spagat schließt dann die tägliche Informationsflut mit ihren Nachrichten in Wort und Bild aus aller Welt in Echtzeit. Auch Künstler, Sänger und Sportgrößen kommen aus aller Welt und versammeln ekstatische Massen, die meist in Ballungsräumen beheimatet sind, in kommerziell perfekt organisierten Massen-Events. Das eigentliche Land verblasst – mit Ausnahme organisierter Schwerpunkte.
Es fällt auf, dass die ganze neuere Technologie den enormen Trend zur Verstädterung verstärkt hat und weiter dramatisch verstärkt. Zumindest in Europa, wahrscheinlich aber in der ganzen Welt verändert sich die Lebensweise der Menschen und damit letztlich auch die Politik. Darauf lassen sich vermutlich auch viele jener Änderungen im herkömmlichen Parteienwesen zurückführen, für die es andere Erklärungen bislang nicht gibt, außer diese sind unbefriedigend. Wir erleben im Zeitlupentempo das „Finale der klassischen Ideologien“.[3] Jedenfalls ist die Verstädterung des Menschen eine nicht mehr wegzuleugnende Tatsache. Sie wird uns noch viele Probleme bescheren.
Anmerkungen
[1] Alle Zahlen wurden dem „Fischer Weltalmanach 2014“, Frankfurt/Main 2013, entnommen.
[2] Vgl. den Artikel in „Zur Zeit“, Nr. 4/2020, Seite 48.
[3] Vgl. Karl Claus, „Die Parteien in der Sackgasse – das Finale der klassischen Ideologien“, Edition Genius, Wien 2007.
Wenn Ihnen dieser Artikel besonders gefallen hat, können Sie uns gern eine kleine Spende überweisen: An die Genius-Gesellschaft für freiheitliches Denken, Wien, IBAN: AT28 6000 0000 9207 5830 BIC: OPSKATWW. Auch über kleine Spenden wie € 5,– oder € 10,– freuen wir uns und sagen ein herzliches Dankeschön.
Bildquelle:
- Optimized by JPEGmini 3.13.3.2TB 0xdaa3608f: Pixnio