Ein Amerikaner schreibt über die Vertreibungen

Eine Buchbesprechung von Gerulf Stix über Konrad Badenheuer „80 Thesen zur Vertreibung – Aufarbeiten statt verdrängen“

Der US-amerikanische Völkerrechtler und Historiker Alfred de Zayas hat seine jahrzehntelangen Forschungen u. a. über die Vertreibung von rund 15 Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Buch in 80 Thesen gegossen. „Nur noch ein geringer Anteil der jungen Menschen in Deutschland kann beispielsweise Schlesien, einst eine blühende deutsche Region von der doppelten Größe Hessens, überhaupt noch auf der Landkarte finden.“ Diese Feststellung spricht Bände. Sie erklärt sehr gut, warum ausgerechnet ein Amerikaner und zugleich hoher UNO-Beamter diese Verdrängung und Verharmlosung – eine „typisch deutsche“ Fehlentwicklung – so nicht hinnehmen will.

Sich gerade den vertriebenen Deutschen zuzuwenden, sieht DDr. Alfred de Zayas als Notwendigkeit angesichts einer heute weltweiten Entwicklung an: „Die Notwendigkeit dafür besteht, denn leider nimmt die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen (die man unbedingt von Wirtschaftsmigranten unterscheiden muss – so de Zayas) weltweit zu. Sie hat zuletzt mit über 60 Millionen einen traurigen Rekord erreicht.“

Im Vorwort zu diesem Buch schreibt der Verleger Konrad Badenheuer: „Merkwürdigerweise bezieht die deutsche Politik aber nur dann so klar im Sinne des Völkerrechts Stellung (Anm.: Hinweise auf Dokumente des Deutschen Bundestages), wenn beispielsweise Kosovaren oder Armenier die Betroffenen sind und gerade nicht, wenn es um die nahezu 14 Millionen deutschen Vertriebenen der Jahre 1945 bis 1948 geht.“

Der Hinweis auf das Jahr 1948 ist wichtig. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu wilden Vertreibungen, großteils unter erniedrigenden Umständen. Aber in den Jahren 1946 bis 1948 kam es zu organisierten „Bevölkerungstransfers“. In seiner 15. These schreibt de Zayas u. a.: „Wesentliche Gründe dieses weltweit beispiellosen Geschehens waren vielmehr bewusste, vielfach von langer Hand herbeigeführte politische Entscheidungen, wie Dokumente und offene Bekenntnisse der verantwortlichen tschechischen, polnischen und sowjetischen Politiker belegen.“ Und er schließt die 15. These mit den Worten: „Die Darstellung mancher polnischer, tschechischer und deutscher Historiker, wonach die Vertreibung die natürliche Folge der deutschen Verbrechen war, ist eine politische Geschichtsklitterung, die sich anhand der diplomatischen Schriftwechsel und der Protokolle der Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam leicht widerlegen lässt.“ Der Verfasser weist nach, dass das Verdrängen der deutschen Bevölkerung bereits nach dem Ersten Weltkrieg (!) einsetzte. Insbesondere Polen und Tschechien (ursprünglich Tschechoslowakei) taten sich dabei hervor. Wer sich über die genauen Zahlen der deutschen Bevölkerung und deren Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg in den verschiedenen Ländern informieren will, wird in diesem Buch auch hinsichtlich der statistischen Zahlen fündig werden. Bekanntlich wurde ausgerechnet den meisten betroffenen Deutschen die vom US-amerikanischen Präsidenten Wilson versprochene Selbstbestimmung 1918 bzw. in den Jahren unmittelbar danach verweigert. So durften zum Beispiel auch die 3,3 Millionen Deutsch-Österreicher, die aus der Konkursmasse der K. u. k. Monarchie im neu geschaffenen Staat Tschechoslowakei verblieben waren, nicht über ihre Staatszugehörigkeit abstimmen. Von diesen Deutsch-Österreichern kamen 3 Millionen als sogenannte „Sudetendeutsche“ später dann durch das in Friedenszeiten zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und Hitler-Deutschland geschlossene Münchner Abkommen 1938 – also vor Beginn des Zweiten Weltkrieges – mit der Eingliederung des Sudetenlandes zum Deutschen Reich. Diese Sudetendeutschen wurden 1945/46 auf brutale Weise vertrieben. Das Sudetenland wurde wieder Teil des heutigen Tschechien. Bekanntlich lautet ein Spruch: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Deshalb sind die auf Seite 161 abgedruckten Landkarten mit den deutschen Siedlungsgebieten in Europa um 1910 und dann 1950 besonders eindrucksvoll.

Eine Kluft zwischen den Generationen in Mitteleuropa

In dem Buch wird ebenfalls die sehr schlechte Lebensmittelversorgung in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands in den Jahren 1945 bis 1948 geschildert. An dieser Unterversorgung sowie an den medizinischen Folgen der Vertreibung starben mehr als 400.000 Ost- und Sudetendeutsche außerhalb ihrer Heimat. In Deutschland wurden die letzten Aufnahmelager für Vertriebene „etwa 1951 aufgelöst, in Österreich teilweise sogar erst in den späten Fünfzigerjahren“ (Seite 77).

Die heutige Generation, die in eine „Überflussgesellschaft“ (Galbraith) hinein geboren und in ihr aufgewachsen ist, kann sich das Elend der Jahre nach 1945 einfach nicht vorstellen. Das ist dieser Generation wirklich nicht zum Vorwurf zu machen. Aber diese markante Veränderung der Lebensumstände erklärt zum Teil die tiefe Kluft zwischen der rudimentär heute noch lebenden Elterngeneration und deren nun schon erwachsenen Kindern und gar erst den Enkelkindern, die mittlerweile das Smartphone besser beherrschen als ihre Großeltern, die in ihren Jugendjahren von einem Mobiltelefon nicht einmal träumten. Wenn diese Jugend entsetzt ist, dann bewirken das vielleicht übliche Fernsehbilder, die „Kollateralschäden“ mit verängstigten Frauen und Kindern zeigen, wenn im Jemen oder in Syrien bei harten Militäreinsätzen vielleicht zwanzig oder hundert oder tausend Zivilisten getötet werden oder flüchten müssen. Schlimm genug!

Aber dass dieses Schicksal hier in Europa Abermillionen der eigenen Vorfahren vor nur einer Lebensspanne betroffen hat, will nicht in die Köpfe der Jungen. Und noch weniger können oder wollen sich viele in der jüngeren Generation vorstellen, dass Flucht und Vertreibung der eigenen Vorfahren hier in Europa kaum vergleichbar sind mit der Aufnahme von fremden Kriegsflüchtlingen aus weit entfernten Ländern und deren Ansiedlung hier. Helfen ja, aber dann für geordnete Rückkehr der Fremden sorgen! Also genau das tun, was hinsichtlich der vertriebenen Deutschen vergessene Vergangenheit und gegenwärtig kein politisches Thema mehr, sozusagen „nicht in“ ist.

Das Schicksal der Sudetendeutschen

Zum traurigen Schicksal der Sudetendeutschen finden sich viele Stellen im Buch. Unter der Überschrift: „Europäisches Parlament: ‚Dekrete, die sich auf die Vertreibung beziehen, aufheben!‘“ erwähnt de Zayas, dass die Sudetendeutsche Landsmannschaft (Präsident dzt. LAbg. Gerhard Zeihsel) bereits in den Jahren vor dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik ebenso wie die Bayerische Staatsregierung stets die Auffassung vertreten haben, dass die berüchtigten Beneš-Dekrete aufgehoben werden müssten. Geschehen ist das jedoch bis heute nicht. 15 der insgesamt 143 Beneš-Dekrete beziehen sich auf die Vertreibung: „Die Enteignungsdekrete, die Zwangsarbeitsdekrete, das Ausbürgerungsdekret, die beiden Retributionsdekrete, das Dekret über die Kolonisierung des Sudetenlandes mit ‚slawischen Landwirten‘, das Dekret über die Aufhebung der deutschen Universitäten in Prag und Brünn und das sogenannte Amnestiegesetz vom 8. Mai 1946, mit dem praktisch alle an Deutschen und Ungarn in der Tschechoslowakei bis zum Herbst 1945 begangenen Verbrechen für ‚nicht rechtswidrig‘ erklärt wurden.“ (Seite 184). Der erschütterte Leser stellt sich angesichts dessen unwillkürlich die Frage, ob diese nach wie vor gültigen Beneš-Dekrete auch zum Bestand der modernen „europäischen Werte“ gehören? Wenn nicht, warum gibt es diese Dekrete dann noch?

Zusammenfassend darf gesagt werden, dass dieses Buch eine ausgezeichnete Darstellung der völkerrechtswidrigen Vertreibungen in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bietet. Allein das einschlägige Literaturverzeichnis umfasst beinahe 9 Seiten. Dazu werden Entschließungen und Dokumente sowie Protokolle von Reden bis herauf in das Jahr 2005 gebracht. Eine wahre Fundgrube! Um mit Worten Alfred de Zayas aus seiner 79. These zu schließen: „Es gilt, Vertreibungen überzeugend zu ächten und damit künftige ‚ethnische Säuberungen‘ zu verhindern.“

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