Türkische Politik zwischen Realismus und Illusion – Teil 1

Von Peter Toplack

Am 14. März 2021 flogen mindestens zwei Boeing C-17 A – türkische Medien sprechen aber auch von fünf – der Luftwaffe Qatars militärisches Cargo aus der Türkei nach Kiew. Am gleichen Tag wurde bekanntgegeben, dass für die von der Türkei produzierten Kampfhubschrauber ATAK 2 die notwendigen Triebwerke in der Ukraine hergestellt werden sollen. Dieses Land hatte in der Sowjetunion eine hochentwickelte Flugzeug- und Raketenindustrie, die nach 2014 ihren Anschluss zu den Partnern in Russland verlor. Was alles nach Kiew transportiert worden ist, kann nur geschätzt werden. Neben den Hubschraubern könnten es auch an die Ukraine gelieferte Drohnen gewesen sein, zumal der Besitz von Angriffsdrohnen für die Ukraine nicht bekannt ist.

Dass die türkische Politik sowie das türkische Militär sich in Zukunft der ukrainischen Waffenindustrie stärker zuwenden wollen, hat wiederum die Ursache in den eigenen großen Ambitionen, aber auch in den Erfolgen ihrer Eigenproduktionen im Konflikt Armenien-Aserbaidschan. Der durchschlagende Erfolg von Aserbaidschan war neben der äußerst tatkräftigen Hilfe durch das türkische Militär dem Einsatz von Kampfdrohnen aus türkischer Produktion zu verdanken.

Auf die Drohne Bayraktar TB2 mit ihrem kanadischen Infrarotsystem Wescam MX-15D mit weitreichender Zielgenauigkeit hatte das armenische Militär keine Antwort parat, was letztlich nach den Verlusten auch zu großen innenpolitischen Problemen in Eriwan führte. Nach Protesten von Armeniern in den USA und in Kanada stellten diese Länder den Export dieses Infrarotsystems an die Türkei ein. Nachdem aber zusätzlich noch mindestens zwei weitere von insgesamt neun ausländischen Firmen ihre Verträge aus Protest gegen die von der Türkei gesponserte Invasion zurückzogen, war es notwendig, sich auch um neue Lieferanten für die Teile der Bayraktar-Drohnen umzuschauen. Aus den USA und den NATO-Staaten war wegen des Kaufs des russischen Abwehrraketensystems S 400 wenig Hilfe zu erwarten, daher wandte man sich eben der Ukraine zu.

Schon länger verwendete die Ukraine türkische Überwachungsdrohnen an der Grenzlinie zum Donbass, umgekehrt ist schon seit einiger Zeit die Verlegung von Truppen samt leichtem und schwerem Material aus der zentralen Ukraine zur Grenzlinie hin zu bemerken. Auch die Einhaltung des Abkommens von Minsk, das von der ukrainischen Regierung nur sehr zaghaft durchgeführt worden war, ist seit kurzer Zeit praktisch ausgesetzt, seit der Präsident der Ukraine eine Neuverhandlung des Abkommens ins Spiel gebracht hat.

Es scheint so, als ob die Führung der Ukraine nach dem Erfolg der türkisch unterstützten Aseris in Karabach auf den Geschmack einer eigenständigen Lösung des ähnlichen Problems mit dem Donbass unter wenigstens moralischer Unterstützung durch die Türkei gekommen ist. Inzwischen sind – nach Angabe der Behörden des abtrünnigen Donbass – zumindest zwei der Beobachtungsdrohnen abgeschossen worden.

Für die Türkei ist die Ukraine ein willkommener Partner für militärische Ausstattungsgüter wie Strahltriebwerke, Turboprop-Motoren, Dieselmotoren, Anti-Schiffs- und Cruise-Raketen, Radarsysteme, Raumfahrts- und Satellitentechnologie, Raketentriebwerke etc. Gerade die sich auf diesem Wege ergebenden Möglichkeiten dürften auch der Grund dafür sein, dass der stellvertretende türkische Außenminister in einer Rede vor der 46. Sitzung des UN Human Rights Councils, bei der auch die Krim auf dem Programm stand, von „illegaler Annexion der Krim“ gesprochen hat und Russland die Unterdrückung der Krimtataren vorwarf. Auf russischer Seite blieb man über diese Äußerungen sehr ruhig und unaufgeregt.

So friedlich große Teile der turkstämmigen Krimtataren auch auf der Krim leben, darf man nicht vergessen, dass eine große Gruppe von Tataren in Kiew politisch gegen Russland und die Krim agitiert, dabei aber auch von der türkischen Regierung unterstützt wird. Immer wieder werden aus Kiew Reden von Politikern kolportiert, in denen als zweites oberstes Ziel nach der Eroberung des Donbass die Rückeroberung der Krim genannt wird. Man kann nur hoffen, dass Agitationen aus der bitterarmen Ukraine nicht ausarten und zum kriegerischen Selbstläufer werden.

Die Türkei im Weltraum?

Die türkische Republik feiert Ende Oktober 2023 ihren 100. Geburtstag. Nachdem zum fünfzigsten Geburtstag als Geschenk an die Bevölkerung in Istanbul die erste Brücke über den Bosporus gebaut worden war, sollte von einem im Vergleich zu 1973 sehr viel reicher gewordenen Land auch ein entsprechend größeres und die erworbene Macht wiederspiegelndes Geschenk dem Volk präsentiert werden. Am 9. Februar 2021 hielt Präsident Erdogan eine überraschende Rede, in der er das neue Raumfahrtprogramm der Türkei für die nächsten zehn Jahre bekannt gab. Schon 2023 soll mit Hilfe internationaler Kooperation ein türkisches Raumfahrzeug auf dem Mond landen. Immerhin hat die Türkei ja schon seit 2018 eine eigene Raumfahrtbehörde!

Auch wenn aus der türkischen Regierung bekannt geworden war, dass Kontakte zu Elon Musk und auch zur russischen Behörde Roskosmos aufgenommen worden sind, passt zu dieser Absicht durchaus das eingangs Gesagte über die Kooperation mit den Resten der ukrainischen Raumfahrtindustie, die noch immer für viele Länder sehr attraktiv sind. Dieses von Erdogan angekündigte Raumfahrtprogramm ist äußerst umfangreich und umfasst für die nächsten zehn Jahre auch eigene Satellitensysteme sowie den Aufbau eines eigenen Navigationssystems, um nicht auf Dauer von GPS (USA), Galileo (EU) oder Glonass (Russland) abhängig zu sein. Zusätzlich wäre auch noch bemannte Raumfahrt in der Planung. Dazu benötigt das Land neben umfangreicher Forschung auch den Aufbau einer entsprechenden Industrie, einen Weltraumbahnhof und … Unmengen von Geld.

Die Türkei als Atommacht?

Diese Wünsche passen bestens zur bereits vor einiger Zeit von Erdog˘an bekannt gemachten Absicht, die Türkei in den Kreis der Kernwaffen-Mächte einzugliedern! Dazu passt wieder der Bau eines Kernkraftwerks durch den russischen Konzern Rosatom in Akkuyu am Mittelmeer, dessen dritter von vier Reaktoren vor kurzer Zeit unter virtueller Anwesenheit der Präsidenten Putin und Erdogan mit der Grundsteinlegung begonnen wurde. Das Kraftwerk sollte 2023 in Betrieb gehen und dem türkischen Stromnetz mit einer Leistung von 4,8 Gigawatt (GW) zur Verfügung stehen.

Der bedeutende Bau hat wiederum in der geplanten Fertigstellung einen Bezug zum runden Geburtstag der türkischen Republik, weil der erste weitgehend fertiggestellte Block 2023 in Betrieb gehen soll. Es sieht aber so aus, dass mit einer Inbetriebnahme des gesamten Werks kaum vor 2026 zu rechnen ist. Mit einer auf 15 Jahre garantierten Abnahme von 50 Prozent der von allen Blöcken produzierten Energie zu fixem Preis durch den türkischen Staat und den frei verkäuflichen restlichen 50 Prozent durch die Betreiber des Kernkraftwerks wird ein guter Beitrag zur Stabilisierung des europäischen Stromverbunds Südost geleistet, in dem die Türkei zusammen mit Rumänien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Griechenland etc. an das gesamte europäische Stromnetz angeschlossen ist.

Der Betrieb des Meilers ist noch lange nicht mit dem Besitz einer Kernwaffe gleichzusetzen, aber der Wunschzettel der türkischen Politik hat – zwar auf etwas versteckter Position – immer wieder diese Waffenpläne aufgewiesen. Zuletzt hat vor nicht allzu langer Zeit Präsident Erdogan darauf hingewiesen, dass der Eintritt der Türkei in den Kreis der Atommächte mit der machtvollen Position seines Landes in Einklang zu bringen sei. Der Schreiber dieser Zeilen kann aus seiner jahrzehntelangen berufsbedingten Zeit in der Türkei nur davor warnen, gerade diese Aussage des Präsidenten nicht ernst zu nehmen. Besonders in kriegerischen Belangen samt den dazu notwendigen Industrien ist die Türkei immer schon sehr erfolgreich in der Verfolgung ihrer Ziele gewesen (siehe z. B. das sehr moderne Drohnensystem).

Die Türkei als Wirtschaftsmacht

Vor über 40 Jahren sagte der türkische Politiker Necmettin Erbakan in einer Rede vor seinen Anhängern bei einer Wahlveranstaltung, dass er, sollte er Ministerpräsident werden, die Türkei innerhalb von zehn Jahren in den Kreis der zehn wichtigsten Industrienationen der Welt führen werde. Erbakan studierte Maschinenbau in Istanbul, promovierte an der Technischen Universität in Aachen und war danach noch einige Jahre bei Deutz in Köln beschäftigt. Nach seiner Rückkehr wurde er bald Professor an der Technischen Universität in Istanbul. Bereits 1970 gründete er in der Türkei eine politische Partei, die bald wegen ihrer stark religiösen Ausrichtung verboten wurde, aber der Beginn der Milli-Görüs-Bewegung in Deutschland war. Die vielen folgenden und immer wieder verbotenen Erbakan-Parteien blieben stets der Kern und Träger dieser gefährlichen Bewegung in der Bundesrepublik mit ihren Einflussgebieten im weiteren Umkreis wie zum Beispiel auch in Österreich. Aus einer dieser Parteien ging auch Erdogan hervor, spaltete sich aber später mit einigen Parteikollegen von Erbakan ab, weil sie alle mehr reformistische Ideen verfolgten. Jedenfalls war die weitere Karriere Erdogans weitaus erfolgreicher als letztlich jene von Erbakan, obwohl dieser für kurze Zeit auch Ministerpräsident der Türkei wurde (1996–1997). Die hohe Karriere wurde aber durch einen sanften unblutigen „Militärputsch“ am Grünen Tisch beendet.

Im März 2021 kündete Erdogan in einer Rede ein umfangreiches wirtschaftliches Reformpaket an, in der er unter anderem sagte: „Wir werden unsere Ziele erreichen, indem wir Tag und Nacht arbeiten, um die Türkei zu einer der zehn größten Industrienationen der Welt zu machen.“

In der Reihenfolge der mächtigsten Industrienationen lag die Türkei bis vor kurzer Zeit vor der Schweiz an 19. Stelle, weil für die Reihung das gesamte Bruttonationalprodukt gezählt wird und nicht jenes pro Kopf der Einwohner, von denen die Türkei 83 Millionen hat. Nachdem Erdogan schon vor einigen Jahren die Frauen der Türkei aufgefordert hatte, mindestens drei Kinder zu gebären, könnte damit tatsächlich zum Teil das BNP aufgebessert werden. Gegenüber Ländern mit geringerer Bevölkerungszahl (siehe Schweiz – Türkei) hat naturgemäß ein Land mit großer Bevölkerung einen Vorteil. Im BNP je Kopf kommt die relative Wirtschaftsleistung zum Vorschein, diese wird aber nicht in der Reihenfolge der Nationen gewertet. Etwas zynisch könnte man in Bezug zum oben genannten Redeteil fragen, ob Erdogan die Nachtarbeit zum Teil als eine der Grundlagen für die Erhöhung des zukünftigen BNP durch höhere Einwohnerzahlen gemeint hat?

Aussagen wie zum Erbakan/Erdoganschen Wirtschaftsziel, zur Weltraummacht oder zur Atommacht klingen vielleicht aus unserer Sicht völlig unrealistisch, sind aber für den größten Teil der Bevölkerung der Türkei allein aus mangelnder Bildung und von Kindheit an durch ständige Indoktrination mit den hohen Werten der türkischen Nation und ihrer sich daraus ergebenden Kraft durchaus verständlich und kaum hinterfragbar! Der auch in Deutschland tätig gewesene Lyriker Orhan Murat Arıburnu (1918–1989) drückte das sehr nett mit folgenden Worten aus:

„Hoffnung ist der Armen Brot, iss, Mehmet, iss …“

Finanzkrise in der Coronakrise

Die Wirtschaft der Türkei hat in der Corona-Krise ähnliche Probleme wie die Wirtschaft anderer Länder. Nach einem Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent im ersten Quartal 2020 gab es im zweiten, bedingt durch die Corona-Einschränkungen, einen Einbruch von –10,3 Prozent. Nach Lockerungen im Sommer gab es im dritten Quartal wieder einen Anstieg von 6,3 Prozent, und es wurde erwartet, dass es im vierten Quartal wieder zu einer Abschwächung kommen würde. Überraschend war aber, dass nach einem neuerlichen und unerwarteten Zuwachs von 5,9 Prozent das jährliche Wachstum mit +1,8 Prozent ausgewiesen werden konnte. Unter den 20 größten Industrienationen erreichte nur noch China einen Wirtschaftszuwachs von +2,3 Prozent. Erreicht wurde dieser wohl auch durch eine sehr freie Kreditvergabe der türkischen Nationalbank zu günstigen Bedingungen, die allerdings auch ihren Preis in einem Kursverlust der Landeswährung und in einem Anstieg der Inflationsrate hatte.

Die Probleme mit der Währung und der Inflation hatten zur Folge, dass im vierten Quartal 2020 der Finanzminister (Schwiegersohn von Erdogan) zurückgetreten ist, aber in der Folge auch von Erdogan selbst im November 2020 der Chef der Zentralbank abgesetzt wurde. Mit diesem hatte sich der Präsident nicht einigen können, denn zur Festigung der Währung wäre eine Anhebung des Leitzinssatzes notwendig gewesen, Erdogan aber befürchtete in diesem Fall eine Zunahme der damals schon recht hohen Inflation. Auf dieser persönlichen Meinung des Präsidenten beruhen einige der in der letzten Zeit aufgetretenen Währungs- und Wirtschaftsprobleme des Landes.

Der neue Chef der Nationalbank erhöhte schließlich im Einverständnis mit dem Präsidenten den Leitzins von 10,25 auf 17 Prozent. Innerhalb weniger Tage verbesserte sich der Wechselkurs der türkischen Lira um über zehn Prozent. Nach dem Jahreswechsel traten vor allem im Februar neue Schwierigkeiten auf, und der Wechselkurs verschlechterte sich wieder um etwa fünf Prozent, weshalb am 17. März der Leitzins offensichtlich ohne Absprache mit dem Präsidenten um weitere zwei Prozent auf 19 Prozent angehoben wurde. Sofort änderte sich der Wechselkurs auf den niedrigsten Wert seit einiger Zeit. Allerdings besserte sich nicht das Verhältnis zwischen dem Chef der Nationalbank und dem Präsidenten mit der Folge, dass die Nationalbank am Freitag, 19. März 2021, einen neuen Leiter bekam, der diesmal direkt aus der Partei Erdogans in diese hohe Stelle aufstieg.

Dieses Wechselspiel hat auf jeden Fall mit dem stetig abnehmenden Zuspruch des Präsidenten im Volk zu tun. Deshalb möchte Erdogan die Inflation so niedrig wie möglich halten, und er hat in allen die wirtschaftliche Situation ansprechenden Reden immer das Ziel einer einstelligen Inflation als Ziel vorgegeben. Durch den hohen Leitzins kletterte die Inflation erst recht auf Werte, die Sorgen bereiten mussten. Ende Februar 2021 erreichte die Inflation für Verbraucher eine Zunahme von 15,61 Prozent im Jahresvergleich. Politisch besonders besorgniserregend ist aber die Zunahme der Lebensmittelpreise innerhalb eines Jahres um 18,4 Prozent bei drastischen Preiserhöhungen von Grundnahrungsmitteln wie Brot, Eiern, Käse und Öl.

Im gesamten Orient gibt die Höhe des Brotpreises eine Hürde vor, über die die Politik sich kaum zu springen getraut! Während der mehr als 30 Jahre, in denen der Schreiber dieser Zeilen in der Türkei lebte, blieb der Preis für ein Brot auf Basis der Deutschen Mark fast konstant, nur das Gewicht verringerte sich mit der Zeit.

Einbruch des Wechselkurses der Lira und des Aktienindex

Am Wochenende nach dem 19. März kam es im internationalen Handel bereits zu Korrekturen des Kurses der türkischen Lira (TL). Mit der Eröffnung des türkischen Handels am Montag, 22. März 2021, wurde die TL zu einem um fast elf Prozent schwächeren Kurs gegenüber dem Dollar bzw. dem Euro gehandelt, der Börsenindex sank um über zwölf Prozent. Nach einer Handelswoche hatten sich TL und Börse bei einem Verlust von etwa zehn Prozent eingependelt.

In den Medien wird das Drama der letzten Wochen, vor allem jenes vom 19. März und danach, heruntergespielt und so getan, als würde gleich in der nächsten Zeit ohne geringste Probleme der Zustand der letzten Monate erreicht werden. Allerdings hatte die Türkei auch in dieser Zeit schwer zu schnaufen gehabt, um wenigstens das Finanzsystem einigermaßen stabil halten zu können. Gerade im letzten Jahr waren hohe Rückzahlungen internationaler Kredite fällig.

Ein Mitglied des Teams für Wirtschaftspolitik des Präsidenten stellte in den Medien fest, dass einige Firmen wie etwa CNN Türk gleich nach dem starken Liraeinbruch 7,4 Millionen Dollar in TL gewechselt haben. Er meinte dazu, dass die Firmen den Umtausch deshalb gemacht haben, weil sie später bei einem besseren Kurs einen Rücktausch vornehmen könnten. Das kann er aber jemandem, der wie ich 30 Jahre im Land gelebt hat, nicht erzählen. Der Kurs wird nie mehr besser werden, außer durch wirtschaftliche Maßnahmen, zu denen es aber der Türkei an Potential fehlt. Die Firmen haben deshalb gleich TL gekauft, weil sie Dollars oder Euros, die zur Bezahlung der Angestellten oder ähnlicher notwendiger Auslagen vorgesehen waren, zu dem meist günstigsten Kurs gleich nach einem Währungseinbruch wechseln wollten. In währungspolitisch schwieriger Zeit ist das Halten von TL-Depots eine schlechte Idee.

Gerade in dieser jetzigen Währungslage ist ein Wechselkurs erreicht, der für den Schreiber dieser Zeilen eine schöne Möglichkeit zur Erinnerung bietet: Im August 1974 bin ich zum Dienstantritt zum ersten Mal nach Istanbul gereist. Der Kurs TL : ATS (Schilling) war damals 1 : 1,4. Heute wäre der Kurs (gerechnet aus ATS) knapp 1000000 1 = TL : ATS!! Daraus lässt sich erkennen, wie hoch in der Zeit bis heute die Inflationsraten waren, wobei die Regierung Erdogan besonders in ihren ersten Jahren ab 2002 erfolgreich dabei war, die Inflation auf einer Höhe von fünf Prozent zu halten. In den letzten Jahren aber war das nicht mehr möglich.

Der oben genannte Herr von der Wirtschaftspolitik lässt daher auch ganz im Sinne seines Herren wissen, dass der Leitzins, der noch auf 19 Prozent steht, zurückgenommen werden sollte, sonst könnte die Inflation nicht niedrig gehalten werden. Allerdings will die Türkei exportieren, wofür ein günstiger Devisenkurs von Vorteil ist. Zudem muss die Türkei gerade in den nächsten Jahren hohe Schulden abzahlen. Auch hier wäre ein besserer Kurs nicht schlecht. Jedenfalls soll die neue Höhe des Leitzinses beim Committee für Geldpolitik der Türkischen Zentralbank ausdiskutiert werden.

In den letzten Tagen war von einer Rücknahme des Leitzinses von 19 auf 17 Prozent nicht mehr die Rede. Wohl aber blieb der Kurs der TL ebenso wie der Aktienindex mit nur unwesentlichen Abweichungen im Bereich, in dem beide nach dem Start des Handels am Montag, 22. März, bekannt gegeben wurden. Dass die Kurse weiterhin etwa um zehn Prozent niedriger als vor der Entlassung des Nationalbankchefs festgelegt wurden, ist ein deutliches und alarmierendes Zeichen für den dadurch entstandenen Vertrauensverlust.

Vorbereitung auf vorgezogene Neuwahlen?

Verschiedene Aktionen des Präsidenten und seiner Regierung scheinen auf vorgezogene Neuwahlen hinzudeuten, wobei das eigentliche Wahljahr erst 2023 wäre. Viele Aussagen des Präsidenten, die die erfolgreiche Zukunft der Türkei unter seiner Führung ansprechen, sind wie die Raumfahrt oder die weltweite Stellung der Wirtschaft Teil der berühmten orientalischen Märchenkunst. Die Zustimmung zu seiner Führung und der seiner Partei hat in letzter Zeit beständig abgenommen. Ein alarmierendes Warnzeichen war bei den letzten Regionalwahlen der Verlust des Bürgermeistersessels in Istanbul, einer Stadt mit 16 Millionen, an die CHP (republikanische Volkspartei, von Atatürk gegründet, linksgerichtet). Dazu kommt die Corona-Krise, die das Land ebenso sehr in Schwierigkeiten zieht, und die noch stärker zuschlägt als in Europa, weil die Familienstrukturen in Anatolien die Großfamilie bevorzugen. Aber auch der sehr geduldige Anatolier lässt sich nicht dauerhaft bei der Masken-, Impf-, Ausgehverbots- oder sonstigen Coronastange halten.

Zur Vorbereitung des Parteikongresses der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi = Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) wurde in der ersten Märzwoche das neue Wirtschaftsprogramm veröffentlicht. Nach den letzten Währungsproblemen wurde wenige Stunden vor Beginn des Kongresses ein nur geringfügig verändertes neues Programm veröffentlicht. Das kann man durchaus als Versuch interpretieren, die Moral der teilnehmenden Parteimitglieder aufzubessern. Sehr viel Wert wird in diesem Programm auf den Ausbau und die Erleichterung des Inlandshandels, auf die Preisstabilität, auf die Vermeidung der Arbeitslosigkeit und auf die Konkurrenzfähigkeit gelegt. Im Kongress selbst wurden Änderungen in der Personalzusammensetzung in allen Ebenen durchgeführt sowie ein neuer engster Stab des Präsidenten und vier seiner Stellvertreter bestimmt.

Die wichtigste Vorbereitung auf Neuwahlen läuft im Hintergrund des Parteikongresses ab:

Das Verbot der kurdischen Partei HDP (Halkların Demokratik Partisi = Demokratische Partei der Völker, linksgerichtet). Diese kurdische Partei hält im Parlament in Ankara 67 (davon ein syrisch-christlicher Abgeordneter) der gesamt 601 Sitze. Das Regierungsbündnis aus AKP (mit religiös-nationaler Ausrichtung) und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, Partei der nationalistischen Bewegung, sehr rechts bis rechtsextrem) verlor bei der letzten Wahl 2018 zusammen 7,7 Prozent und hält mit 345 Sitzen noch die Mehrheit. Wenn die HDP verboten und die Gründung einer neuen kurdischen Partei so lang als möglich hinausgezögert wird, ist es für die Opposition praktisch unmöglich, die Mehrheit zu erlangen. Gerade diese Partei war aber in den letzten Jahren für Erdogan sehr gefährlich, weil sie nicht nur in den kurdischen Gebieten des Südostens der Türkei stets die Stimmenmehrheit erreichte, sondern auch in den Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara etc.) intellektuelle Schichten zur Stimmabgabe für die HDP bewegen konnte, um damit die Macht der AKP im Parlament nicht zu groß werden zu lassen.

Gerade in wirtschaftlich schwerer Zeit ist die Gefahr derartiger Protestwahlen sehr groß.

Das gilt es also zu verhindern. Die vorbereitenden Arbeiten wurden schon seit einiger Zeit durchgeführt, indem den frei gewählten Bürgermeistern der Städte im Kurdengebiet immer wieder das Amt entzogen wurde, wenn sie kein Glück hatten – das hatten nur wenige – nicht ins Gefängnis kamen, und durch Verwalter der Regierung ersetzt wurden. Die Begründung ist immer gleich: Unterstützung des und Zuarbeitung zum Terrorismus. Seit kurzer Zeit ist gegen die Partei HDP bereits ein Verbotsverfahren mit ähnlichen Beschuldigungen im Laufen.

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