Viktor Orbán: Der widerspenstige Ungar

Von Reinhard Olt

Mit seiner auf den Schutz ungarischer Interessen ausgerichteten Politik gilt Viktor Orbán vielerorts als Buhmann der Europäischen Union. Ein genauerer Blick zeigt, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe haltlos sind. Gleichwohl verfolgt der Ministerpräsident einen Politikansatz, der sich stark von dem anderer EU-Länder unterscheidet.

Unter dem Titel „Viktors Virus“ behauptete Matthias Krupa kürzlich in der Zeit im Brustton politisch-korrekter Überzeugung, der ungarische Ministerpräsident Orbán regiere „jetzt ohne Parlament“, denn die Volksvertretung sei „vorerst geschlossen; die Notstandsgesetzgebung gilt bis auf Widerruf (durch das Parlament, das nicht mehr tagt)“. Mit derartigen Verdikten blieben Krupa und die Zeit sowie der Mainstream der deutschsprachigen Medienlandschaft und der Politik in den EU-Staaten nicht nur nicht allein; sie erwiesen sich auch von vornherein als falsch. Denn das ungarische Parlament tagte selbstverständlich weiter, ja es fasste Beschlüsse und verabschiedete sogar Gesetze. So beispielsweise jenes, das nunmehr festlegt, dass das bei der Geburt festgestellte und amtlich eingetragene Geschlecht später in Dokumenten nicht mehr verändert werden darf.

Sodann beschloss es unter anderem weitere Maßnahmen zur Steuerung und Verfeinerung der ohnedies beispielhaften kinder- und familienfreundlichen Politik, die die Regierung Orbán seit geraumer Zeit betreibt – und damit zugleich kontrapunktorische Zeichen setzt wider das weithin propagierte Postulat von der Migration als ausgleichenden Gewinn für die unter Überalterung leidenden europäischen Gesellschafts- und Sozialsysteme. Man darf daher gespannt sein, ob und wer in Politik und Medien dem von Orbán erhobenen Anspruch folgt, sich nach Aufhebung seiner ihm zur höchstmöglichen Abwehr der Corona-Seuche vom Parlament im März übertragenen und im Juni endenden Vollmachten für all die gegen ihn, seine Regierung, seine Partei sowie gegen Ungarn – Staat und Bürger – gerichteten verunglimpfenden Anwürfe und Attacken zu entschuldigen.

Ungerechtfertigte Anschuldigungen

Für Politik und Medien im mittleren und westlichen Europa, vornehmlich für die veröffentlichte Meinung in Deutschland und Österreich, gilt Orbán seit Jahren als der Reibebaum schlechthin. Was wirft man ihm nicht alles vor: Er schränke Menschen- und Freiheitsrechte ein; er gängle missliebige Medien; er erweitere die Macht der Exekutive, kneble die Justiz und unterminiere die Gewaltenteilung; er nehme die Wirtschaft an die Kandare und beschneide die Rechte der Gewerkschaften; er kujoniere Andersdenkende und gesellschaftliche Gruppierungen – kurzum, er überziehe Ungarn mit einer autoritären Ordnung und schaffe schließlich die Demokratie ab.

All das grenzt für Kenner des Landes, seiner Geschichte und seiner politischen Kräfte seit dem Systemumbruch 1989/90 ans Absurde. Richtig ist vielmehr, dass Orbán Ungarn einer grundstürzenden Reform auf allen gesellschaftlichen Feldern unterzieht, die westliche Denkvorstellungen herkömmlicher Art übersteigt. Dass er allem misstraut, was in Politik wie Medien politisch korrekt als „Hauptströmung“ nicht nur propagiert und vorgegeben wird, sondern auch, wie diese Strömung in der EU „politisch korrekt“ befolgt und durchgesetzt werden soll. Und dass er eine Politik betreibt, in deren Mittelpunkt die Nation steht und die den Interessen des ungarländischen Volkes dient.

Was sich vornehmlich daran zeigt(e), dass er, um mit seiner rigorosen Ablehnung der „Flüchtlingspolitik“ seit 2015 und des sogenannten „Migrationspakts“ zwei Beispiele zu nennen, sowohl wider den EU-, als auch wider den UN-Stachel löckt. Und dass ihm die Magyaren daheim und dort, wo sie seit dem unsäglichen Vertrag von Trianon (5. Juni 1920) als Minderheit zu leben gezwungen sind, aber auf Betreiben der Regierung Orbán (seit 1. Januar 2011) die Doppelstaatsbürgerschaft innehaben und damit an Urnengängen in Ungarn teilnehmen können, ausweislich aller in Wahlen und demoskopischen Erhebungen gemessenen Zustimmungswerte mit überwältigender Mehrheit folgen.

Seit 2010 ist in Ungarn eine „wahre Wende“ im Gange, nämlich die zielgerichtete und mitunter skrupellose Ablösung des postkommunistischen Systems mit all den Erscheinungsformen des ihm eigenen Eliten-Klientelismus. Bestärkt darin, ein „Bürgertum in Ungarn“ ebenso wie ein „bürgerliches Ungarn“ überhaupt zu schaffen und festzuzurren, so dass dies irreversibel ist, sah und sieht sich Orbán durch die „Revolution an den Wahlurnen“ bestätigt, die sich seit 2010 noch zweimal, 2014 und 2018, wiederholte.

Die ungarische Wende

Im April 2011 war das neue Grundgesetz vom Parlament verabschiedet worden, worin Orbáns Partei Fidesz-MPSz („Bund Junger Demokraten – Ungarischer Bürgerbund“) mitsamt festem Bündnispartner KDNP („Christlich-Demokratische Volkspartei“) seit 2010 über eine Zweidrittelmehrheit der Sitze verfügt. Die neue Verfassung sowie sogenannte „Kardinalgesetze“ (oder „Schwerpunktgesetze“), in denen aufeinander abgestimmte Gesetzesmaterien neu geregelt wurden, bereiteten zusammen mit der Verdrängung der postkommunistischen polit-ökonomischen Netzwerke den Boden für die politische Umgestaltung des Landes.

Die wirtschaftliche Neugestaltung ging indes nicht so einfach vor sich, denn die zweite Orbán-Regierung – erstmals regierte er von 1998 bis 2002 – hatte von den sozialistisch(-liberal)en Vorgängerregierungen unter Péter Médgyessi, Ferenc Gyúrcsany und Gordon Bajnaj einen wirtschaftlichen und finanziellen Bankrott geerbt. Zuerst waren im Krisenmanagement harte Maßnahmen zu ergreifen, um die IWF-Kredite (und damit die Fremdbestimmung) loszuwerden und den Staatshaushalt zu sanieren. In der Legislaturperiode 2010 bis 2014 gelang die wirtschaftliche Konsolidierung, und von 2014 bis 2018 ging es mit dem Lebensstandard der Ungarn deutlich bergauf.

Nun wird gewiss auch die „Coronitis“ auf Ungarns Wirtschaft bremsend wirken, doch Orbáns im Zuge seiner Sondervollmachten getroffene Notstandsmaßnahmen scheinen durchaus geeignet, die sozialen und gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen weitgehend einzuengen.

Schutz von Grenzen und Heimat

Orbáns strikte Grenzschutzmaßnahmen, die im Übrigen sowohl den Schengen- als auch den Dublin-Vorschriften der EU entsprechen, und seine Weigerung, sich an der (hauptsächlich von Kanzlerin Merkel gewollten) Flüchtlingsverteilung „solidarisch“ zu beteiligen, die von der EU ins Werk gesetzt werden sollte, hat Orbán, der in dieser Angelegenheit die gesamte „Visegrad-Gruppe“ (Ungarn, Polen, Slowakei, Tschechien) auf seine Seite zog, politisch-medial zum „Paria“ der Europäischen Union werden lassen. Vielen Medien ist ein oberlehrerhafter Journalismus eigen, operieren sie doch mit ideologisch grundierten Formulierungen. Dabei wird, wer die Merkelsche Migrationspolitik infrage stellt, sofort in eine bestimmte politische Ecke geschoben.

Schon 2015/16, als die „Refugees welcome“-Welle voll im Schwange war, „wagte“ es Ungarn, zwischen Flüchtlingen und Migranten zu unterscheiden sowie seine Schengen-Außengrenze den eigentlich gültigen vertraglichen Vorgaben der EU entsprechend zu sichern. Orbán wurde dafür unverzüglich fast überall in der Europäischen Union politisch und medial verdammt.

Doch spätestens als Bundespräsident Steinmeier in einem Interview sagte, es sei nicht nur zwischen Flüchtlingen und Migranten zu unterscheiden, sondern auch der zentralen Bedeutung von sicher geschützten EU-Außengrenzen das Wort redete, wurde auch in politischen Verlautbarungen und in den Medien mehr differenziert. Als Orbán sagte, der an Ungarns Südgrenze errichtete Zaun schütze auch ganz Europa, rief dies in Deutschland die übliche mediale Aufregung hervor. Die Anmerkung Kanzlerin Merkels in einem TV-Interview, der Zaun an Ungarns Südgrenze trage auch zum Schutz Deutschlands bei, änderte daran wenig.

Die „illiberale Demokratie“

Massive Kritik zog sich Orbán im Zusammenhang mit dem von ihm geprägten Begriff „illiberale Demokratie“ zu, den er zur Kennzeichnung eines von ihm für unzeitgemäß, aber für zwingend notwendig und daher für Ungarn erstrebenswert gehaltenen gesellschaftspolitischen Zustands verwendete. Der ungarische Regierungschef brachte damit zum Ausdruck, dass die Liberalität in vielen westlichen Staaten zu weit gegangen sei, dass sie nämlich den Feinden der Demokratie gestatte, Institutionen auszuhöhlen und von innen heraus zu zerstören. Damit hat er, wie nicht wenige Beispiele im Weltenrund zeigen, gewiss nicht Unrecht. Falsch verstandene Toleranz wirkt letztlich zerstörerisch. Ursache dafür ist nach Orbán die „political correctness“, eine Erscheinung, die längst den Politik- und Medienbetrieb zu beherrschen scheint.

Indes steckt in besagter Begriffsprägung die konnotative Aufforderung, wieder zu den „christdemokratischen Fundamenten“ Europas zurückzufinden, die er und seine Mitstreiter nicht nur durch linke, linksliberale und sozialistische Inhalte für verwässert halten, sondern geradezu ihres Kerns für entkleidet erachten. In diesem Sinne ist sein an die anderen in der Europäischen Volkspartei (EVP) vereinten politischen Kräfte gerichtetes Memorandum zu verstehen: sich auf die „wahre christliche Demokratie“ zu besinnen, anstatt die von ihm geprägte und geführte Partei Fidesz, deren Politik just darauf gründe, auszuschließen – wie dies nicht allein von EVP-Chef Tusk, dem vormaligen EU-Kommissionspräsidenten Juncker und belgischen sowie skandinavischen Parteienvertretern gefordert wird, sondern selbst von einigen CDU- und sogar CSU-Hinterbänklern.

Dass Orbáns Politik keineswegs „antieuropäisch“ oder gegen die Grundlagen der Christdemokratie gerichtet ist, zeigte sich 2016, als der „Ehrenbürger Europas“ Helmut Kohl seinen „alten Freund“ zu sich nach Oggersheim lud, um ihm den Rücken zu stärken. Doch anstatt innezuhalten und darüber nachzudenken, ob der Alt-Bundeskanzler mit seiner Haltung Orbán gegenüber eventuell recht haben könnte, und anstatt den eigenen Umgang mit dem ungarischen Ministerpräsidenten zu hinterfragen, suggerierten nicht wenige Stimmen vor allem in Deutschland, dass der greise Kanzler vermutlich gar nicht mehr wisse, was er tue. Was zweifellos noch schäbiger war als der Umgang mit Orbán.

Alles in allem bleibt für den langjährigen Beobachter festzuhalten: Kritik an „Orbáns Ungarn“ ist zwar wohlfeil, aber weithin unbegründet – und ohne Wirkung. Wer behauptet, es gehe „autoritär“ zu im Lande, bzw. es habe sich dort eine „Demokratur“ etabliert, zeigt damit, dass er dem ideologisch motivierten Hass von dessen zahllosen Gegnern auf den Leim gegangen ist.

Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war von 1985 bis 2012 Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und von 1994 bis zu seinem Ausscheiden deren politischer Korrespondent in Wien. Er hatte Lehraufträge an diversen deutschen und österreichischen Hochschulen inne.

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