Über „Woke“ als neue Theorie aus den USA

Buchbesprechung über „Vivek Ramaswamy – Woke, Inc. Inside the Social Justice Scam“ von Jan Mahnert

„Ich heiße Vivek Ramaswamy und ich bin ein Klassenverräter“ – mit diesen Worten beginnt Ramaswamys Buch über „woke“ Kapitalismus, d.h. über den Trend, dass sich immer mehr Unternehmen bei gesellschaftlichen Fragen möglichst progressiv geben. Ein Trend, der in den Vereinigten Staaten von Amerika zu einem seltsamen Zweckbündnis – von Ramaswamy als „woke-industrieller Komplex“ bezeichnet – zwischen linksradikalen Aktivisten und milliardenschweren Großunternehmen geführt hat.

Ramaswamys Buch ist nicht das erste zu diesem Thema (ich habe in einem früheren Beitrag bereits Stephen Soukups Buch The Dictatorship of Woke Capital erwähnt), doch was Woke, Inc. so besonders macht, ist, dass es nicht von einem außenstehenden Politikwissenschaftler, sondern von einem Insider geschrieben wurde: Vivek Ramaswamy hat sowohl in der Hochfinanz als auch in der Pharmaindustrie gearbeitet. Er beschränkt sich nicht darauf, den „Woke“-Kapitalismus als Erscheinung zu analysieren, sondern ist auch in der Lage, praxisbezogene Erfahrungen und Überlegungen in seine Ausführungen einzubringen.

Vivek Ramaswamy ist der Sohn indischer Einwanderer, die vor vierzig Jahren nach Amerika kamen. Er studierte molekulare Biologie an Harvard, arbeitete anschließend für einen großen Hedgefonds, bevor er an der Yale University berufsbegleitend Jus studierte. Nach diesem zweiten Studium gründete er im Jahr 2014 das Unternehmen Roivant Sciences, das er bis Januar 2021 als CEO leitete. Was hat ihn dazu bewogen, das eigene, erfolgreiche Unternehmen zu verlassen? Die Überzeugung, dass Geschäft und Politik getrennt gehören. Nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten im Mai 2020 wurden innerhalb von Roivant Sciences Stimmen laut, die Firma solle klar gegen Rassismus und Polizeigewalt Stellung nehmen. Ramaswamy, der sich als Konservativer bezeichnet, tat dies nur zögernd und widerwillig, weil er der Meinung war, der Zweck seines Unternehmens bestehe in der Herstellung von Medikamenten, nicht in politischer Selbstinszenierung. Um konsequent zu bleiben, verließ er später die Geschäftsführung, um sein Buch zu schreiben. Er ging damit einen anderen Weg als zahlreiche Unternehmer, die heutzutage das wirtschaftliche Gewicht ihrer Firma dazu nutzen, eine politische Agenda durchzusetzen. Ramaswamy zweifelt nicht daran, dass viele es ehrlich meinen, doch er zeigt in seinem Buch auch die Schattenseite des „Woke“-Kapitalismus. Hochinteressant – und zugleich erschütternd – ist die Beschreibung der Komplizenschaft zwischen linken und kapitalistischen Akteuren, die von Kalkül und gegenseitigem Nutzen geprägt ist. Es geht um viel Profit und Einfluss – auf der Strecke bleibt die Demokratie.

Weil Ramaswamys Buch inhaltlich sehr dicht ist, muss ich für diese Besprechung einiges weglassen, damit der Text nicht zu lang wird. So habe ich darauf verzichtet, Ramaswamys Erläuterungen zur amerikanischen Rechtsprechung zusammenzufassen, denn sie beziehen sich auf Gesetze und Gerichtsentscheide, die dem europäischen Publikum fremd sind. Ich habe auch sekundäre Themen wie die paradoxe Unterwürfigkeit der „Woke“-Unternehmen gegenüber autoritären Staaten wie China und Saudiarabien, der Aufstieg der Managerklasse und die Frage der Rentabilität von „Woke“-Anlagestrategien ausgelassen. Ich fokussiere mich dagegen auf die Ideen und Umstände, die zur Entstehung des „woke-industriellen Komplexes“ geführt haben, auf die Gefährdung der Demokratie durch die starke Einmischung der Wirtschaft in politische und soziale Fragen und auf die möglichen Maßnahmen, die Vivek Ramaswamy vorschlägt, um den Einfluss des „woke-industriellen Komplexes“ einzudämmen. Die Struktur meines Beitrags folgt nicht der Reihenfolge der Buchkapitel; ich habe mir die Freiheit genommen, Ramaswamys Ausführungen so zu ordnen, dass dieser Text ein schrittweises Eintauchen in die Materie erlaubt.

„Woke“-Ideologie

„Woke“-Kapitalismus ist das Ergebnis der Bündnisschließung zwischen „Woke“-Ideologie und Stakeholder-Kapitalismus – ein Ereignis, von dem Vivek Ramaswamy meint, es sei nicht selbstverständlich gewesen, da diese beiden Denkrichtungen nicht natürlich kompatibel seien.

Der Begriff „woke“ kommt aus dem afroamerikanischen Englischen und leitet sich vom Verb „to awake“ (erwachen) ab; er bezieht sich auf das Bewusstsein um die Existenz von Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen wie Rassismus und Sexismus. Bevor die „Woke“-Ideologie mit der Wirtschaftswelt in Berührung kam, hatte sie sich über Jahrzehnte hinweg in der akademischen Welt verbreitet.

Vivek Ramaswamy erklärt, die „Woke“-Ideologie reduziere den Einzelnen auf eine kleine Zahl von angeborenen Eigenschaften wie Hautfarbe und Geschlecht und teile ihm eine Gruppenidentität zu. Er gehöre ab da einer bestimmten Gruppe an und habe die Interessen dieser Gruppe zu fördern. Die Identität des Einzelnen wird mit anderen Worten zu einer eindimensionalen Essenz. Ramaswamy lehnt diese Betrachtungsweise ab und meint, der Mensch sei ein vielschichtiges Wesen. Er selbst sei nicht nur ein Mann, sondern auch ein Vater, ein Ehemann und ein Sohn. Nicht nur eine „Person of Color“, sondern auch ein Hindu, ein Nachfahre von Einwanderern und ein amerikanischer Bürger. Nicht nur ein früherer CEO, sondern auch ein Wissenschaftler und ein Unternehmer. Er definiere sich nicht über ein einziges dieser Merkmale, sondern er sei dies alles gleichzeitig und mehr. Für Ramaswamy besteht wahrer Pluralismus darin, das enggefasste Identitätsverständnis der „Woke“-Ideologie zu überwinden und einzusehen, dass jeder von uns sich nicht auf angeborene Merkmale reduzieren lassen kann. Ramaswamy hält die „Woke“-Ideologie als Hindernis für die Solidarität unter Amerikanern. Sie trägt in seinen Augen zur Polarisierung der Gesellschaft bei.

Stakeholder-Kapitalismus

Vor dem „Woke“-Kapitalismus gab es den so genannten Stakeholder-Kapitalismus. Dieser steht im Gegensatz zum Shareholder-Kapitalismus. Während Letzterer die Maximierung der Interessen der Eigentümer (Shareholder) als das Hauptziel eines Unternehmens betrachtet, will Ersterer auch die Interessen anderer Gruppen (Stakeholder), z. B. der Beschäftigten, der Minderheiten oder der Umwelt berücksichtigen.

Die Unterscheidung zwischen Shareholder- und Stakeholder-Kapitalismus ist gemäß Ramaswamy auf einen Disput zwischen Ökonom Milton Friedman und WEF-Leiter Klaus Schwab in den frühen 1970er-Jahren zurückzuführen. Als Vertreter des Shareholder-Kapitalismus schrieb Friedman im September 1970 im New York Times Magazine, der soziale Zweck eines Unternehmens bestehe darin, Profit zu machen. Im Jahr 1973 konterte Schwab mit dem „Davos Manifest“ und forderte einen neuen Ethikkodex für Unternehmensleiter. Diese sollten nicht allein nach Renditen für die Aktionäre streben, sondern auch ihren Arbeitern und Angestellten sowie Gesellschaften dienen und die Interessen verschiedener Stakeholder in Einklang bringen. In den 1980er-, 1990er- und frühen 2000er-Jahren setzte sich allerdings Friedmans Ansicht des Kapitalismus durch. Erst die Wirtschaftskrise von 2008 markierte einen Wendepunkt in der Haltung gegenüber dem klassischen Kapitalismus.

Soll ein Unternehmen sich auf die Maximierung der Shareholderinteressen konzentrieren oder soll es darüber hinaus an der Verbesserung des Schicksals anderer Gruppen arbeiten? Ramaswamy kommt zum Schluss, ersteres Ziel sei nichts anderes als das Wesen des Kapitalismus. Letzteres stelle hingegen eine Gefahr für die Demokratie dar, denn die Antwort auf viele soziale Fragen bestehe nicht darin, Demokratie und Kapitalismus unter eine Decke zu zwingen, sondern im Gegenteil darin, sie auseinanderzuhalten, damit die Sphären der Politik und der Wirtschaft sich nicht gegenseitig verschmutzen können.

Ramaswamys Kritik am Stakeholder-Kapitalismus ist nicht als Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer Gruppen zu verstehen. Ramaswamy zweifelt lediglich daran, dass der Stakeholder-Kapitalismus, wie er heute praktiziert wird, der beste Weg ist, um zu helfen. Er stellt eine Alternative vor: Statt sich zu bemühen, soziale Fragen zu lösen, sollten die Unternehmungsleiter sich vor wichtigen Entscheidungen die möglichen negativen oder unerwarteten Folgen vor Augen führen, um zu verhindern, dass Menschen zu Schaden kommen. So mache es einen erheblichen Unterschied, wenn ein Zigarettenhersteller weniger suchterzeugende Zutaten in seine Produkte steckt, anstatt einen hohen Betrag an Black Lives Matter zu spenden und seine weißen Angestellten zum Besuch von Antirassismus-Seminaren zu zwingen.

Was ist der Zweck eines Unternehmens?

So tragisch der Tod von George Floyd auch war, erachtet Vivek Ramaswamy es als nicht weniger tragisch, dass täglich Tausende Menschen aller Rassen an Krankheiten sterben, für die es keine Medikamente gibt. Mit seiner Firma Roivant Sciences hatte er sich deshalb zum Ziel gesetzt, solche Medikamente zu entwickeln. Zum Beispiel Medikamente zur Behandlung von Gebärmutter-Myomen, Endometritis und Sichelzellenanämie – drei Krankheiten, unter denen vorwiegend afroamerikanische Frauen und Männer leiden.

Als innerhalb von Roivant Sciences der Druck stieg, endlich gegen Rassismus und Polizeigewalt Stellung zu nehmen, musste Ramaswamy sich erneut die Frage nach dem Zweck seines Unternehmens stellen. Als CEO hatte er einerseits dafür zu sorgen, dass seine Angestellten sich an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlten, anderseits bestand seine Aufgabe auch darin, sicherzustellen, dass die Firma Medikamente entwickelt, ohne sich von dieser Mission ablenken zu lassen. Ramaswamy stört, dass die meisten amerikanischen Unternehmen sich auf die Black Lives Matter Bewegung fixieren und andere Ungerechtigkeiten ausblenden. Er sei persönlich über die Verfolgung der Uiguren in China entsetzt, doch keiner seiner Angestellten habe je Besorgnis über dieses Verbrechen zum Ausdruck gebracht. Letztendlich sah Ramaswamy es als seine Aufgabe an, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem er Medikamente entwickelt; die Bekämpfung von Ungleichheit in Amerika und von Menschenrechtsverletzungen im Ausland sei die Aufgabe der Behörden.

Die Geburtsstunde des „woke-industriellen Komplexes“

Vivek Ramaswamy datiert die Entstehung des „woke-industriellen Komplexes“ auf die Zeit der Finanzkrise von 2008 und der Occupy Wall Street Bewegung. Nachdem die amerikanischen Großbanken, die als „too big to fail“ galten, mit Steuergeldern gerettet wurden, obwohl sie die Krise herbeigeführt hatten, platzte der Öffentlichkeit der Kragen. Klaus Schwabs Ansichten zum Stakeholder-Kapitalismus gewannen an Fahrt, die Occupy Wallstreet Bewegung wurde gegründet. Doch dann geschah etwas Seltsames: Es traten Akteure auf den Plan, die erklärten, nicht die Banken seien das Problem, sondern „vererbte Entmachtung“ (inherited disempowerment). Rasse und Gender ersetzten den Klassenkampf. Die „Woke“-Bewegung, die jahrzehntelang an den Universitäten gewachsen war, stahl die Show.

Im Unterschied zu Occupy Wall Street rief die „Woke“-Bewegung dazu auf, die Ursache für Ungleichheit in den Privilegien bestimmter Menschen (in der Regel weiße heterosexuelle Männer) und nicht im Missbrauch von Macht durch Großunternehmen zu suchen. Vivek Ramaswamy schreibt, Wall Street musste Occupy Wall Street gar nicht von außen töten, die „Woke“-Bewegung höhlte Occupy Wall Street von innen aus. Als die Wall Street feststellte, dass die „Woke“-Bewegung keine Gefahr darstellte, kamen sich beide Seiten näher: Die „Woke“-Bewegung brauchte Geld und die Wall Street moralische Rückendeckung. Die Übernahme der neuen „woken“ Werte stellte für die Wall Street eine einmalige Gelegenheit dar, vom Häretiker zum Heiligen zu werden. Die Großunternehmen galten nicht länger als Unterdrücker. Für die „Woke“-Bewegung gab es auch viel zu gewinnen: Die Unternehmen stellten ein gewaltiges Sprachrohr dar, das dazu beitrug, die „Woke“-Ideologie zum neuen Mainstream zu machen.

Der „woke-industrielle Komplex“ als Geschäftsmodell

Vivek Ramaswamy zeigt, wie sehr die Großunternehmen und die „Woke“-Bewegung voneinander profitieren. Wenn Erstere Geldbußen zahlen müssen, geht das Geld oft nicht an den Staat, d.h. an die Steuerzahler, sondern es fließt in die Taschen linker Organisationen. Wie? Nach der Finanzkrise von 2008 legte das amerikanische Justizministerium den Großbanken heftige Bußen auf. Allerdings erklärte es sich bereit, die Höhe der Bußen zu reduzieren, wenn die Banken ihrerseits gewillt seien, das Geld an von Präsident Barack Obama bevorzugte gemeinnützige Organisationen zu spenden. Die Banken nahmen das Angebot dankend an. Es war eine Win-win-Situation: Das Justizministerium stand gut da, weil es etwas gegen die Banken unternommen hatte, die Banken konnten den Großteil ihres Geldes behalten und die linken Organisationen wurden mit Spenden überschüttet. Das Sahnehäubchen: Die Banken konnten ihre „Spenden“ von der Steuer absetzen, weil das Steuerrecht es ihnen erlaubte.

Nicht nur die amerikanische Exekutive bedient sich solcher Methoden. Auch die Judikative holt sich ihr Stück des Kuchens: Erreichen Unternehmen vor Gericht einen Vergleich, finden Richter und Anwälte Wege, das Geld an ihre Lieblingsorganisationen oder an ihre früheren Universitäten kommen zu lassen – auf Kosten der Menschen, die von den Unternehmen geschädigt wurden und geklagt hatten.

Für die Wirtschaftswelt ist der „Woke“-Kapitalismus ein Glücksfall. Viele Unternehmen nutzen ihr gesellschaftliches Engagement, um von zweifelhaften Praktiken abzulenken. So sei es kein Zufall gewesen, dass David Solomon, der CEO von Goldman Sachs, im Januar 2020 am World Economic Forum in Davos ankündigte, seine Bank würde künftig nur noch Firmen an die Börse nehmen, die für mehr „Vielfalt“ in ihrem Verwaltungsrat sorgen. Diese Ankündigung verdrängte im Medienrummel diese andere Nachricht: Dass Goldman Sachs im Zusammenhang mit dem Skandal um den 1Malaysia Development Berhad Fund Geldbußen in Höhe von 5 Milliarden Dollar zahlen musste.

Ramaswamy schreibt, Großbanken wie Goldman Sachs seien besonders gut darin, das Spiel des „Woke“-Kapitalismus zu spielen. Allerdings sei Goldman Sachs kein Einzelfall: Der „Woke“-Kapitalismus sei inzwischen zum herrschenden Geschäftsmodel in der amerikanischen Wirtschaft geworden. Ramaswamy nennt dieses Modell, das „Woke“-Werte mit Großkapital verbindet, „Wokenomics“. Beunruhigend an diesem Modell sei, dass es die demokratische Entscheidungsfindung zunehmend aushebelt. Nicht mehr die Bürger und die von ihnen gewählten Amtsträger entscheiden über die Werte, welche die amerikanische Gesellschaft prägen sollen, sondern ein kleiner Kreis von CEOs und Portfoliomanagern. Ebenfalls beunruhigend sei, dass der „Woke“-Kapitalismus in immer mehr Lebensbereiche vordrängt, auch in solche, die früher unpolitisch waren. Damit schwindet die Zahl der Zufluchtsorte, in denen die Menschen nicht zu jedem Thema Stellung zu nehmen haben.

Politischer Tribalismus

Immer wieder wird behauptet, Nationalismus und Populismus würden zu Hetze und Spaltung führen. Vivek Ramaswamy zeigt, dass auch die „Woke“-Ideologie ihren Beitrag dazu leistet.

„Woke“ Unternehmen hängen ihre Werte an die große Glocke, um gleichgesinnte Konsumenten dazu zu bewegen, ihre Produkte zu kaufen. Nach dem Tod von George Floyd stellten sich unzählige Unternehmen medienwirksam hinter die Black Lives Matter Bewegung. Ramaswamy erwähnt das Beispiel der Restaurantkette Wendy’s und kommentiert: Wir wollen Gerechtigkeit, doch alles was Wendy’s zu bieten hat, sind Hamburger, weshalb das Unternehmen sich bemüht, beides auf künstliche Art und Weise zu verbinden. Ramaswamy meint, wir wären besser dran, wenn „Woke“-Unternehmen und ihre Kundschaft die geteilte Fiktion, jedes Geschäft habe Teil eines größeren Kampfes zwischen Gut und Böse zu sein, aufgeben würden. Gerechtigkeit könne sicher nicht dadurch erreicht werden, dass man als Kunde das „richtige“ Hemd, den „richtigen“ Turnschuh oder den „richtigen“ Burger kauft. Ramaswamy erklärt, Firmen haben sich schon immer bemüht, ihre Produkte als Teil eines Lebensstils und einer Identität zu vermarkten. Neu ist, dass sie den Kunden davon überzeugen wollen, der Kauf ihrer Produkte sei eine edle und tugendhafte Handlung, die den Käufer nicht nur „cooler“, sondern auch zu einem besseren Menschen mache.

Diese Überspitzung des Tribalismus bildet eine Gefahr für die amerikanische Demokratie, denn sie führt zur Selbstsegregation. Ramaswamy erwähnt diesbezüglich Bill Bishops Buch The Big Sort: Why the Clustering of Likeminded America is Tearing us Apart, das zeigt, wie die Amerikaner ihren Wohnort zunehmend aufgrund von politischen Faktoren auswählen. War es vor vierzig Jahren noch vollkommen normal, neben Menschen mit anderen Ansichten zu leben, neigen viele Amerikaner heute dazu, sich nur noch mit Gleichgesinnten zu umgeben. Der „Woke“-Kapitalismus beschleunigt diese Entwicklung, denn das, was die Menschen kaufen, bestimmt auch, wohin sie gehen, um es zu kaufen. Dasselbe Muster ist auch online festzustellen: Obschon Social Media Plattformen vorgeben, Menschen verbinden zu wollen, ermöglichen sie die Bildung von sogenannten Echokammern, in denen sich Gleichgesinnte gegenseitig in ihrer Meinung bestärken können.

Die Kleider und Lebensmittel, die man kauft, werden zu Uniformteilen und Waffen in der politischen Auseinandersetzung. Linke kaufen ihren Kaffee bei Starbucks, Konservative bei Black Rifle Coffee Company. Es geht dabei nicht mehr so sehr um den Geschmack der Getränke, sondern darum zu zeigen, auf welcher Seite des politischen Spektrums man steht. Der nächste logische Schritt sind Boykottaufrufe gegen Geschäfte, mit deren Werten man nicht einverstanden ist. Online-Plattformen unterstützen dies. Ramaswamy bringt hier das Beispiel von Yelp, die es ihren Nutzern ermöglicht, Kommentare über Geschäfte, in denen „rassistisches“ Verhalten beobachtet worden sein soll, hochzuladen, um Boykottaktionen besser zu organisieren.

In diesem Zusammenhang sind auch Firmen wie Facebook, Amazon, Google, Twitter, YouTube und PayPal zu erwähnen: Sie nahmen nach der Wahl von Donald J. Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 2016 zahlreiche Bücher aus ihrem Sortiment, löschten Einträge und Videos, sperrten die Konten von Aktivisten, Autoren und Verlagen, die sich ähnlich wie Trump gegen Globalisierung und Masseneinwanderung geäußert hatten. Nach dem Sturm von Trump-Anhängern auf das Capitol in Washington am 6. Januar 2021 entfernten Apple und Google von sich aus die bei Konservativen beliebte Parler-App vom App Store bzw. Play Store, während Amazon Parler die Server abschaltete. In guter linker Manier präsentierten die Unternehmen diese Zensur als soziale Verantwortung. Vivek Ramaswamy sieht in diesem Verhalten die Gefahr einer Dehumanisierung: Wenn wir im Umgang mit Andersdenkenden auf Bestrafung statt auf Überzeugungskraft setzen, neigen wir dazu, in ihnen nicht mehr Mitbürger, sondern Feinde zu sehen.

Wege aus der Wokeness

Vivek Ramaswamy schreibt, es sei sinnlos, den woke-industriellen Komplex frontal angreifen zu wollen; zu stark sei er. Andere Wege seien möglich, zum Beispiel die Neudefinierung der beschränkten Haftung der Unternehmen.

Ramaswamy sieht in der Erfindung der beschränkten Haftung der Unternehmen einen wesentlichen Motor der wirtschaftlichen Revolutionen der vergangenen zweihundert Jahre: Diese Rechtsform erlaubte es den Unternehmen, an viel Kapital zu kommen und führte zur Bildung von gigantischen Konzernen. Allerdings bildet die beschränkte Haftung der Unternehmen eine gesetzliche Ausnahme zum allgemeinen Grundsatz der persönlichen Haftung, wonach einfache Menschen die Konsequenzen ihrer Handlungen tragen müssen.

Befürworter des Stakeholder-Kapitalismus vertreten den Standpunkt, die Unternehmen hätten im Gegenzug für die Gewährung der beschränkten Haftung durch den Staat etwas für die Gesellschaft zu leisten. Ramaswamy argumentiert seinerseits, die beschränkte Haftung, so wie sie im US-amerikanischen Recht geregelt worden sei, sollte nicht nur die Wirtschaftskraft steigern, sondern auch dem Machtstreben der Unternehmen einen Riegel vorschieben. Indem die Gesetzgebung den Fokus der Verwaltungsräte auf die finanziellen Interessen der Shareholder richtet, setzt sie zum Schutz der Demokratie dem Einfluss der Unternehmen Grenzen. Ähnlich ergeht es karitativen Organisationen: Sie genießen Steuervorteile unter der Bedingung, dass sie ihre Aktivitäten auf gemeinnützige Zwecke beschränken.

Für Vivek Ramaswamy besteht die Lösung zum Problem der zu großen Macht einiger Unternehmen darin, die beschränkte Haftung enger zu definieren. Wenn Firmen wie BlackRock, einer der eifrigsten Befürworter des „Woke“-Kapitalismus, ihr Unternehmen-Portfolio als Mittel nutzen, um gesellschaftlichen Wandel zu bewirken, sollten geschädigte Konsumenten und Arbeitnehmer sowie andere Stakeholder nicht nur diese Portfolio-Unternehmen, sondern auch BlackRock direkt verklagen können. Die Bereitschaft der Firmen, ihre politische Agenda mit Fremdmitteln durchzusetzen, würde abnehmen, wenn sie dafür zur Verantwortung gezogen werden könnten.

Critical Diversity Theory

Die Förderung der Vielfalt in den Unternehmen ist ein Steckenpferd der „Woke“-Kapitalisten. Vivek Ramaswamy meint, es sei grundsätzlich eine gute Sache, in einem Unternehmen für mehr Vielfalt sorgen zu wollen, denn die Vielfalt der Ansichten ermögliche es, bessere Entscheidungen zu fällen. Allerdings haben die „Woken“ eine andere Vorstellung von Vielfalt: Sie verlangen die Einführung von Quoten für ethnische und sexuelle Minderheiten. Ramaswamy, der als Inder selbst einer Minderheit angehört, hält diese Vorgehensweise für falsch: Menschen bevorzugt aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe anzustellen, sei keine Garantie dafür, dass sie andere, dem Unternehmen nützliche Ansichten einbringen. Es sei daher notwendig, die Vielfalt innerhalb eines Unternehmens anhand anderer Kriterien als die Zahl von Frauen oder von Farbigen zu messen. In Anlehnung an die linke „Critical Race Theory“, die er aber ablehnt, schlägt Ramaswamy eine „Critical Diversity Theory“ vor, die zu wahrer Meinungsvielfalt innerhalb der Unternehmen führen soll. Diese Theorie verfolgt drei wesentliche Ziele:

  • Definieren, welche Arten von Meinungsvielfalt für eine Organisation wichtig sind;
  • Die Meinungsvielfalt innerhalb einer Organisation messen;
  • Bei der Anstellung des Kaders auf Meinungsvielfalt achten.

Für Ramaswamy soll Vielfalt kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Exzellenz sein. Organisationen sollen selbst ihren Zweck und die zur Erfüllung dieses Zweckes notwendige Vielfalt bestimmen können. Er hält es für eine gute Sache, dass verschiedene Organisationen unterschiedliche Ansichten zur Lösung von sozialen Fragen vertreten; dies sorge für institutionellen Pluralismus. Ramaswamy hält es ebenfalls für notwendig, Wirtschaft und Staat streng zu trennen. Unternehmen sollten sich darauf beschränken, gegen Profit Produkte herzustellen und Dienstleistungen anzubieten; sie sollten davon absehen, soziale oder politische Agendas, die nichts mit ihrer Haupttätigkeit zu tun haben, zu forcieren.

Fazit

Welchen Nutzen hat Ramaswamys Buch, das auf die US-amerikanischen Verhältnisse zugeschnitten ist, für uns Europäer? Nichts Neues unter der Sonne, ist man versucht zu sagen: Aus einer Langzeitperspektive ist „Wokeness“ einfach die neueste Entwicklungsstufe des linksliberalen Gedankenguts, mit dem wir uns in Europa seit mehreren Jahrzehnten auseinanderzusetzen haben. Die Kollaboration zwischen Linken und Wirtschaft hat nicht erst gestern begonnen – man denke da nur an die Migrationsfrage. Auch Ramaswamys juristische Ausführungen und Ratschläge zur Anfechtung einer Kündigung des Arbeitsplatzes sind in Europa m. E. nur bedingt brauchbar, da sie sich auf die US-amerikanische Rechtsprechung stützen. Trotz dieser (wenigen) Schwächen ist Ramaswamys Buch lesens- und empfehlenswert: Es erlaubt, bestimmte Erscheinungen besser einzuordnen. Die Passagen über die Vorgeschichte des „woke-industriellen Komplexes“, die Heuchelei der Unternehmen und die religiösen Züge der „Woke“-Ideologie sind besonders lehrreich. Zu guter Letzt sorgen Ramaswamys Storytelling sowie seine Fähigkeit, differenziert zu argumentieren, für eine spannende Lektüre.

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