Von Gerulf Stix
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz prägte das Wort von der Zeitenwende, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine eingetreten sei. Für Europa sei eine lebenslange Friedensepoche zu Ende gegangen, in welcher die europäischen Staaten untereinander auf den Krieg als Element der Außenpolitik verzichtet haben. Ganze Generationen sind herangewachsen, ohne einen Krieg je selbst erlebt zu haben. Sie befanden sich bis vor Kurzem noch in dem utopischen Traum, dass Gewalt als Mittel der Politik ausgedient habe. Kriege wurden als barbarisches Relikt angesehen. Zumindest der europäische Teil der Weltbevölkerung habe dieses Relikt einer blutigen Vergangenheit hinter sich gelassen. Der Traum vom Weltfrieden schien Wirklichkeit zu werden. Welch fataler Irrtum!
Gelegentlich eines Mittagessens mit mir sagte der mittlerweile verstorbene Otto von Habsburg einmal, dass immer dann die Gefahr eines großen Krieges drohe, wenn eine Generation von Menschen herangewachsen sei, die selbst keinen Krieg erlebt hat. Leider sollte er Recht behalten.
Wenn derzeit Bundeskanzler Scholz eine sehr zögerliche Haltung zur Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland in die Ukraine einnimmt, so nimmt er nur die Vorstellung ernst, dass Putin eine derartige Lieferung als Parteinahme der NATO – die Bundesrepublik Deutschland ist deren Mitglied – auslegen könnte, woraus sich bösartige Konsequenzen ableiten ließen. Trotz seiner Ablehnung, der Ukraine schwere Waffen aus Deutschland zu liefern, ließ Scholz sich vom Chor derer, die schwere Waffen aus Deutschland forderten, schrittweise zu einem Kompromiss drängen. Scholz sagte schließlich Flugabwehr-Panzer (alte „Geparden“) zu. Das wird wohl erst der Anfang sein, wenn das Tor einmal geöffnet ist. Wer da die Regie führt, lässt sich nur erahnen. Auffällig ist freilich nur, dass dieser Kompromiss erst zustande kam, nachdem sich in Ramstein an die 40 Verteidigungsminister unter der Ägide der NATO versammelt hatten.
Die Kehrtwende der Grünen bei der Aufrüstung
Ganz anders sozialistische, grüne, auch christlichsoziale, liberale Leute und besonders lautstark manche Sprecher und Sprecherinnen vieler Medien! Diese durchaus ideologisch verschiedenen Leute, verbunden nur durch das Merkmal, einer kriegsunerfahrenen Generation anzugehören, fordern vehement, dem ukrainischen Staat direkt aus Deutschland schwere Waffen zu liefern. Besonders die Grünen drängen geradezu auf eine Parteinahme Deutschlands im Ukrainekrieg und kritisieren die zögerliche Haltung des Kanzlers. Unter deren Leuten befinden sich unter anderem Befürworter der Friedensmärsche (Ostermärsche), die als wesentlicher Beitrag zu einem dauerhaften Weltfrieden betrachtet werden. Geradezu auffallend ist, wie sich ausgerechnet jene Leute und Parteien wie die Grünen, die sich beim Aushungern der Bundeswehr in Deutschland und des Bundesheeres in Österreich hervorgetan haben, jetzt für eine Aufrüstung stark machen! Ausgesprochene Pazifisten, denen früher nichts zu naiv war, um die Wehrfähigkeit abzuschaffen, sprechen sich jetzt für eine massive Aufrüstung aus. In der „Die Presse“ vom 29. April findet sich in der Glosse auf Seite 23 unter dem Titel „Ex-Pazifisten entdecken den Rächer-Gott“ die Aussage: „Der Krieg bringt den Gott der Vergeltung in Mode.“ Man kann wirklich nur mehr den Kopf schütteln.
Wie arg muss der russische Angriffskrieg auf die Ukraine diese Menschen aus ihren utopischen Träumereien gerissen haben! Diese friedensbewegten Leute, die sich Jahrzehnte lang gegen Geldausgaben für das Militär gestemmt hatten – weswegen die EU praktisch kaum zur Selbstverteidigung fähig ist –, stimmen heute für eine Erhöhung der Wehrbudgets. Wie das Stockholmer Friedensinstitut als Weltrekord jüngst verkündete, werden weltweit rund 2 Billionen Euro für das Militär ausgegeben. Auf die USA allein entfallen davon in etwa allein gleichviel, wie die 9 weiteren Top-Ten-Staaten hinter ihnen zusammen ausgeben. Erschreckende Zahlen! In Anbetracht dieser Welle einer neuen Aufrüstungshysterie könnte man tatsächlich von einer Zeitenwende sprechen, nur hat sich die Grundwahrheit eben nicht geändert: Gewalt bleibt ein Mittel der Politik.
Geändert hat sich aber die Friedenssehnsucht ganzer Generationen, deren Träume von einer friedlichen Welt wieder einmal zerplatzt sind. Dabei würde ein offener Blick auf globale Krisen durchaus reichen, um zu erkennen, dass kriegerische Gewalt von Anbeginn der Menschheit bis in ihre Gegenwart stets ein Mittel der Außenpolitik, ja der Politik schlechthin war, ist und bleiben wird. In unserer Gegenwart gibt es mindestens 20 kriegerische Konflikte – von Nahost über den Jemen bis nach Afrika, um nur wenige Beispiele zu nennen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dessen Ende als „letzter aller Kriege“ zelebriert wurde, gab es mehr als 200 Kriege, darunter so schreckliche wie den Vietnamkrieg. Ja, Krieg ist und bleibt etwas Schreckliches. Ihn zu vermeiden, muss die Richtschnur der Politik sein, aber trotzdem bleibt es dabei, dass derjenige, der sich stark genug dazu fühlt, zur Gewalt als letztem Mittel greift, wenn alle seine gelinderen Mittel versagen. Realisten kalkulieren das ein.
Der Menschheitstraum vom ewigen Frieden ist uralt
Vor wenigen Wochen wurde der ersten Frau, die 1905 den Nobelpreis erhielt, gedacht.
Berta von Suttner (1843–1914) erhielt ihn für ihren unermüdlichen Einsatz für den Weltfrieden, der in dem berühmten Buch „Die Waffen nieder!“ (1889) gipfelte. Aber wo blieb ihr Erfolg? Schon im gleichen Sommer, in welchem diese Frau verstarb, brach der fürchterliche Erste Weltkrieg aus. Er gebar in der Folge weitere Kriege – letztlich auch den aktuellen Ukrainekrieg, obschon dessen Vorgeschichte sehr lange und sehr kompliziert ist und sich nur nach langen geistigen Umwegen einem historisch gebildeten Beobachter erschließt. Friedensapostel werden zwar hoch geehrt, bewirken aber letztlich nichts.
Der vermutlich wohl größte Friedensapostel war der weltberühmte Philosoph Immanuel Kant. Seine Altersschrift „Zum ewigen Frieden“ erschien 1795, also fast 100 Jahre vor dem Buch „Die Waffen nieder“. In dieser Schrift skizziert der Königsberger Philosoph die Bedingungen für einen Weltfrieden. Sie wurden niemals verwirklicht.
Sogar im Altertum finden sich immer wieder Stimmen, die für die Abschaffung des Krieges plädieren und sich davon einen dauerhaften Frieden erhoffen. Bekannt ist das Zitat des berühmten römischen Redners Cicero: „Der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.“ Doch gerade Europa ist trotz aller Friedensstimmen aus ungezählten Kriegen in jener Form hervorgegangen, in der wir es heute vor uns haben. Ob es uns passt oder nicht, wir haben keine andere Wahl, als die Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, und die ist eben eine blutige. Das lässt sich leider nicht ändern, auch wenn es manche Politiker immer wieder versuchen.
Auch die Weltreligionen, die auf unterschiedliche Weise häufig vom „Frieden auf Erden“ sprechen, haben nichts an der blutigen Geschichte der Menschheit ändern können. Vielfach haben sie selbst zusätzliche Kriege, unter der Rubrik „Religionskriege“ oft gesondert aufgeführt, verursacht. Man erinnere sich der vielen Kreuzzüge. Damals hallte überall im Abendland in verschiedenen Sprachen der Ruf: „Gott will es!“ Aber welcher Gott will Kriege? Das Schlamassel ist mit „reiner“ Vernunft nicht zu lösen. Die „praktische“ Vernunft wird Kriege immer einkalkulieren.
„Jede Hierarchie wird irgendwann in Frage gestellt“
Mit dem unauflösbaren Zwiespalt zwischen Moral und Macht, in den wir Menschen nun einmal gestellt sind, befasst sich Karlheinz Weißmann in einem ausgezeichneten Artikel im Magazin CATO (3/2022). Es ist nicht möglich, alle Gedanken daraus wiederzugeben. Dennoch verdienen einige festgehalten zu werden.
Etwa wenn Ulrike Franke, Sicherheitsexpertin bei European Council on Foreign Relations (Pendant zum gleichnamigen US-amerikanischen Ableger des Foreign Office) sagt, „dass sich die Deutschen im allgemeinen und die Millennials im Besonderen schwertäten angesichts der Tatsache, dass ‚mit militärischen Mitteln durchgesetzte Machtpolitik eine Realität ist, die Antworten erfordert‘ … Wir glaubten, allein Handel, Wirtschaft und Globalisierung seien entscheidend. Wir waren überzeugt, dass sich die Menschen in einer immer enger zusammenwachsenden Welt auch immer ähnlicher werden, dass Konflikte nur noch über internationale Gerichtshöfe und nach dem Völkerrecht geklärt werden.“
Oder wenn Bismarck zitiert wird, der betonte, „dass sich das ‚Staatsinteresse‘ nicht ausrechnen lässt und Gefühle der Menschen – etwa die Verletzung des Ehr- oder Gerechtigkeitsempfindens – zu jenen ‚Imponderabilien in der Politik‘ gehören, ‚die oft viel mächtiger wirken als die Fragen des materiellen und direkten Interesses‘.“
Als Alt-Politiker könnte ich weitere Imponderabilien hinzufügen und bestätigen, dass praktische Politik als Mischung aus vielen Imponderabilien und knallharten Interessenslagen besteht – sowie aus vielen Zufällen, die sich eben einstellen oder auch nicht.
Fast immer jedoch – so besagt meine Erfahrung – führt eine richtige Einschätzung der Machtverhältnisse zu einigermaßen brauchbaren Ergebnissen.
Im Hintergrund einer jeden Macht steht immer mögliche Gewalt. Diese kann auf sehr verschiedene Weise in Erscheinung treten. Die kriegerische Gewalt ist nur eine der Formen. Gewalttätigkeit kann individuell oder kollektiv auftreten, kann roh bewaffnet oder höchst professionell aufgerüstet in Aktion treten. Macht wird niemals auf Gewalt verzichten, wenn sie sich einerseits auf allen Linien durchsetzen will und andererseits über entsprechende Gewaltmittel verfügt.
Wer für gewaltfreie Politik plädiert, setzt voraus, dass Spielregeln gelten, an die sich alle im Ernstfall auch halten. Unter hundert weißen Schafen wird sich aber stets auch mindestens ein schwarzes finden. Und manche Schafe verwandeln sich plötzlich. Das schwarze Schaf (gleichgültig, ob in der Ein- oder Mehrzahl) wird sich nicht an die vereinbarten Spielregeln halten. Und dann kommt wieder die Gewalt ins Spiel. Für den Menschen zwischen Macht und Moral gibt es, so wie Karlheinz Weißmann richtig schreibt, „kein Entrinnen aus diesem Zwiespalt, nur die Forderung, sich auf dem schmalen Grat zwischen Gewissensforderung und Machtversuchung zu halten“. Gute Politik versucht das.
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